Unendlich viel Wahres

„Casting“ von Nicolas Wackerbarth

von Renate Wagner

Casting
(Deutschland 2017)

Drehbuch und Regie: Nicolas Wackerbarth
Mit: Andreas Lust, Judith Engel, Corinna Kirchhoff, Andrea Sawatzki u.a.
 
Casting“, das tägliche Brot im Schauspielerberuf. Selbst die Großen entgehen dem nicht – „der Regisseur will Dich sehen, will ein bißchen was hören.“ Man muß doch auch schauen ob die Chemie stimmt, nicht wahr? Und alle kommen, die Jobs liegen schließlich nicht auf der Straße, am allerwenigsten für Frauen über 50. Eine solche wird gesucht für ein Fernseh-Remake von Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“.
Die Regisseurin ist offenbar schon tagelang dabei, ein Gesicht nach dem anderen zu verschleißen, ohne sich entscheiden zu können. Für den verantwortlichen Redakteur wird die Zeit knapp, zumal der Sender ohnedies schon einer „Promi“-Lady die Rolle so gut wie versprochen hat. Aber die Regisseurin will ihren Status als Entscheiderin behaupten…
Regisseur Nicolas Wackerbarth hat in seiner Eigenschaft als Drehbuchautor meisterliche eineinhalb Stunden geschrieben und dann auch inszeniert. Über Hoffnungen und Ängste, über Machtmißbrauch und Demütigung, über das „Spielen“ nicht nur vor der Kamera, sondern auch im Leben. Über das Sich-Verkaufen-Müssen, als Person, mit Haut und Haar. Keine Distanz, an die Haut, unter die Haut, meisterlich.
Besonders meisterlich, weil er jeder einzelnen Figur ein ganzes Schicksal gibt – und weil jeder einzelne Darsteller brillant genug ist, um das auszuschöpfen. Wobei einerseits die Regisseurin, andererseits der arme Nobody, der nur als „Anspielpartner“ der gecasteten Damen engagiert ist, im Mittelpunkt stehen.
 
Judth Engel ist die Regisseurin Vera. Nicht mehr jung, in jeder Hinsicht ein Spätzünder – mit ihren schätzungsweise gut 50 ist es erst ihre dritte Regie, und ein Baby hat sie auch. Dabei hält sie sich zurück, die anderen die Doppelbelastung merken zu lassen – das Kind wird erst am Ende einmal mitgebracht, wenn offenbar gar kein Babysitter zur Verfügung steht. In der Arbeit ist sie fordernd, es macht ihr Spaß, die Schauspielerinnen zu reizen, ihnen emotional zu begegnen, um ihnen in den Szenen dann auch emotional etwas abzuverlangen. Das verträgt nicht jede, die Situation rund um sie ist immer spannungsgeladen, eigentlich negativ geprägt. Sie manipuliert auch – ihre zunehmend nervöser werdende Assistentin, von der sie so viel Loyalität verlangt, bis der Sender sie hinauswirft (eine glänzende Studie des Versuchs, sich mit sprudelnder Präsenz auch in der zweiten Reihe der Hinhack-Ordnung zu behaupten: Milena Dreissig), vor allem aber Gerwin, den armen Ex-Schauspieler, der es zwar leugnet, aber dessen Sehnsucht, wieder einmal zu spielen, geradezu mit den Händen zu greifen ist. Es gibt eine Szene, wo die Frauen (Regisseurin, Assistentin, Maskenbildnerin) ihn unter dem Vorwand, er spräche nur als er selbst für die Rolle des jungen Liebhabers vor, lustvoll und sadistisch demütigen: Das schmerzt geradezu. #metoo andersrum: Wahrscheinlich würde er, der Schwule, sich die Rolle auch erschlafen.
Aber diese Vera hat ja selbst ihre Ängste, vor allem hat sie einen ungeduldigen Redakteur im Nacken (mehr als überzeugend: Stephan Grossmann), der zwar ein Künstler darin ist, letztendlich nichts ernst zu nehmen, was diese Verrückten da treiben (und zu entscheiden meinen), der aber einen Film auf die Beine stellen muß – jenseits des Gezickes, das hier ausbricht…
 
Auf der anderen Seite, machtlos, aber doch selbstbewußt, agiert auch noch die Maskenbildnerin (Nicole Marischka): Sie muß nicht schön sein, sie kann sie selbst sein, aber sie hat auch ein paar Wörtchen mit zu reden, sie steckt in all dem Schlamassel der anderen, ohne selbst betroffen zu sein, und sie genießt es – samt eigener großer Szene, wenn sie angeblich alles hinwirft, um am nächsten Tag natürlich wieder da zu sein.
Und da kommen sie nun, die Damen „entre deux ages“, die für die Petra von Kant vorsprechen. Keine Frage, alle wollen die Rolle, viele von ihnen brauchen sie dringend, aber es gilt, Souveränität, Selbstbewußtsein, Überlegenheit vorzuspielen.
Die erste Kandidatin (Ursina Lardi) tut es, indem sie schlechte Laune als Machtmittel einsetzen möchte – sie habe doch schon viermal vorgesprochen, wie oft noch? Und warum darf sie nicht blond sein, sondern soll eine dunkle Perücke nehmen? Und warum soll sie noch einmal geschminkt werden? Sie gebärdet sich, als hätte sie die Freiheit, die Sache hinzuwerfen – und als sie dann beim Vorspielen nicht in den Tritt kommt, macht sie den Partner dafür verantwortlich. Nein, danke.
Daß es mit der nächsten Kandidatin (Marie-Lou Sellem) nichts wird, ist schnell klar, die Regisseurin tut ihre Antipathie fast kund, provoziert private Tränen, klar, daß man nicht miteinander kann.
Die dritte ist offenbar ein großer Star: Corinna Kirchhoff versteckt weder ihre grauen Haare noch ihr Alter, sie ist souverän, herablassend, Komplimente wischt sie geradezu beleidigend weg. Beim Vorsprechen macht sie klar, wer sie ist, wie groß ihre Erfahrung, ihr muß man nichts sagen. Dann aber… als die Regisseurin nichts zusagen will und auch gar nicht kann (weil ihr der Redakteur geflüstert hat, der Sender habe sich schon entschieden), da wird es dann wirklich tragisch. Da bettelt die große Schauspielerin, die in ihrem Alter sich gar nichts mehr aussuchen kann, geradezu um die Rolle, setzt ihre ganze Kraft und Persönlichkeit ein, um die Regisseurin zu beschwören und zu einer Zusage zu bewegen… da läuft es einem als Zuschauer kalt über den Rücken.
 
Aber der Star ist schon da, die Nr.5: Andrea Sawatzki schwebt strahlend herein, man hat ihr die Rolle ja schon zugesagt, sie meint, es ginge nur darum, die Crew kennen zu lernen. Zu der ältlichen Regisseurin, die noch nicht so viel Erfahrung hat, ist sie geradezu gönnerhaft: Das machen wir schon! Daß sie jetzt ein Casting machen soll, erwischt sie kalt und fassungslos – und als die Regisseurin nein sagt, versteht sie die Welt nicht mehr. Und auch sie kommt, nach Abzug hoch erhobenen Hauptes, zurück, um ein paar Sätze aus dem Drehbuch zu sagen und zu zeigen, wie gut sie ist… Aber nein, die Regisseurin will nicht.
Und nun scheint die ganz Sache zu platzen, die Entscheidung muß her, jetzt, eine Schauspielerin von Format, oder wir vergessen das ganze Projekt. Gerwin, der herumgestupste Anspielpartner, erinnert sich an eine Kollegin, mit der er Theater gespielt hat (und wenn man seine bedeutungsvolle Miene richtig deutet, dann auch etwas mehr) – und tatsächlich ist, als letzte Chance für alle und letzte Möglichkeit für die Regisseurin, dann diese am Set (Victoria Trauttmansdorff ). Wie tpyisch und wie zu erwarten, daß sie sich an Gerwin überhaupt nicht erinnert… (oder wenn sie es nicht will, dann verbirgt sie das glorios). Aber man kann endlich mit den Dreharbeiten beginnen.
 
Und in diesem ganzen Frauenreigen war Gerwin, besetzt mit dem Österreicher Andreas Lust (der wahrlich mehr sein kann als nur der gequälte TV-Gatte von Ursula Strauss), immer im Zentrum des Geschehens. Immer da, die Luft des Studios atmend. Die Lüge verbreitend, er wolle das alles nicht mehr. Und wie er erwacht, aufblüht, als die Regisseurin ihm die männliche Hauptrolle anbietet! Sie spielt nur mit ihm, er merkt es nicht. Merkt nur, daß ihre Zusage keinen Cent wert ist, wenn der Redakteur die andere Besetzung für die Rolle bringt (Tim Kalkhof), primitiv, aber natürlich ideal für den Strichjungen in Fassbinders Geschichte. Nun darf Gerwin nicht zeigen, daß eine Welt zusammenbricht, daß er geglaubt hat, was man ihm sagt, daß er eine Sekunde für möglich hielt, er bekäme noch eine Chance.
Eine kurze Szene lang erlaubt sich Nicolas Wackerbarth eine Anleihe bei Hollywood (oder deutschen Fernsehschmarrn) – wenn der enttäuschte Gerwin in ein einsames Zimmer läuft, dort das einsam abgelegte Baby der Regisseurin findet und in den Arm nimmt. Wenn sie kommt und (sie hat ja genügend Filme gesehen) das Schlimmste befürchtet (wir tun es ja auch), Erpressung, das Baby an die Wand geschmettert, wenn nicht… nein, Gerwin gibt das Kind zurück. Er ist das, was unsere gnadenlose Gesellschaft einen „Loser“ nennt. Aber auch Loser haben Träume.
 
Die letzte Szene zeigt, wie man sich bei ihm bedankt: Er darf einen Postboten spielen. Liefert der Petra von Kant in Gestalt der Kollegin, die sich nicht an ihn erinnert, ein Päckchen. Er macht das gut, danke, die Szene ist abgedreht, wir können uns von Gerwin verabschieden. Kann er sich von seinem Traum verabschieden? Bitte, machen wir die Szene noch einmal. Bitte. Man tut ihm den Gefallen. Er stellt sich in Positur… Aber da wird nun bekanntlich „beim Happy End im Kino immer abgeblend’t.“
Wer ein bißchen Ahnung von der Branche hat, weiß, daß Nicolas Wackerbarth hier unendlich viel Wahres hineingepackt hat. Und wer die Schauspieler am Bildschirm auf der Leinwand nicht nur bewundert, sondern auch beneidet, bekommt eine Ahnung davon, wie schwer sie für ihren Ruhm arbeiten müssen – nicht nur als Darsteller, sondern auch als Menschen.
 
 
Renate Wagner