Vom Großen im Kleinen

Karl Ove Knausgård - „Im Winter“

von Cornelia Manikowsky

Vom Großen im Kleinen
Karl Ove Knausgård: Im Winter
 
von Cornelia Manikowsky
 
Er sei auf einer Insel aufgewachsen, schreibt Knausgård in seinem Erzählstück ‚ „Fisch“ und doch sei seine Welt die Welt des Landes gewesen: „Pflanzen, Bäume, Landtiere und Vögel“. Bis ihm mit dreizehn Jahren klar wurde, „daß die Inseln in den Schären in Wahrheit Berggipfel waren, und daß das Meer zur Landschaft gehörte, es strömte über das Land, bedeckte alles Niedrige und bildete Kanäle zwischen dem Hohen, so daß die Fische zwischen den Bergen unten schwammen, wie die Vögel zwischen den Bergen oben flogen.“ – Man kann die Intensität dieser kindlich-jugendlichen Erkenntnis im Text spüren, es ist „die Wucht, die selbstverständlichen Einsichten eigen ist“ und es ist auch die Haltung, die die kurzen Texte des neuen Erzählbandes „Im Winter“ von Karl Ove Knausgård prägt: Es geht darum, sich Zeit zu nehmen und die so selbstverständlichen Dinge um sich herum genau anzusehen. Und nicht zuletzt: Für einen Moment die Zeit anzuhalten.   
 
Karl Ove Knausgård schreibt über Frösche und Bienenzucht, über Pisse und Erbrochenes und Einsamkeit und Schnee. Er denkt über Q-tips nach und über Zucker und Plastiktüten. Er porträtiert Menschen, die auch schon in seinem sechsbändigen autobiographischen Werk „Min Kamp“ auftauchen und er schreibt über sein Leben als Autor und Vater von bald vier Kindern. „Im Winter“ ist der zweite Band von vier zusammenhängenden Büchern, die jeweils eine Jahreszeit zum Titel haben: Drei Briefe an eine un- bzw. neugeborene Tochter, datiert jeweils zu Beginn der drei Wintermonate, Dezember, Januar und Februar und gefolgt von jeweils zwanzig kurzen Texten. Wohlwissend, daß das Ungeborene seinen eigenen Weg gehen wird heißt es im ersten Band, „Im Herbst“: „Ich möchte dir unsere Welt zeigen, (…) „dir die Welt zu zeigen, Kleines, macht mein Leben lebenswert“. Die Briefe an die ungeborene Tochter werden so zu einem Schreibvorhaben, der Sammlung der Dinge, die das Leben ausmachen.   
Die Texte in diesem Band sind dicht und kurz und konzentriert, manchmal sind sie fast meditativ, manchmal springen sie assoziativ von einem zum anderen (um nicht selten in der Kindheit zu landen), manchmal auch verrennen sie sich etwas – und werden am Ende doch wieder zurückgeholt. Sie werden von einer Ruhe und Gelassenheit getragen, die in den Min Kamp-Bänden kaum zu finden ist und doch hat man sofort den speziellen Knausgård-Sound. Das liegt zum einen an den bekannten Themen; dem problematischen Verhältnis zum Vater, der Kindheit auf einer südnorwegischen Insel in den 70er Jahren, dem Leben als Schriftsteller und Familienvater in Schweden – und vor allem liegt es an der Hartnäckigkeit, mit der den alltäglichen Dingen nachgegangen wird, mit der sie so lange betrachtet werden, bis sie mehr und mehr von sich preisgeben – und dabei immer fremder werden. Manchmal hat das fast skurrile Züge. So macht sich Knausgård Gedanken, woraus ein Sekretär eigentlich besteht. Aus Holz, aber woraus besteht Holz, was ist das Konkrete des Holzes? Es sind Atome, doch was passiert mit den Atomen, wenn sie schmelzen oder brennen und was bedeutet es, daß man einen Punkt am Ende eines Satzes auf hundert Meter vergrößern müsste um die Atome zu sehen? Auch schnell Zusammengelesenes aus der Atomphysik, kann diese Fragen nicht beantworten, sondern verweist, gerade weil es so offensichtlich schnell zusammengelesen ist – auf die existentielle Größenordnung, die sich hinter der scheinbar banalen Frage, nach dem Konkreten des Holzes und der Erkenntnis der eigenen Unkenntnis verbirgt. Zumal Gott als erklärende Instanz für alles nicht zu erklärende ausfällt: „Wir leben jetzt in der Wirklichkeit der Atome, und einsam sind wir in der Welt.“   
 
Doch es bleibt die Neugier und Weltzugewandtheit des neugeborenen Kindes und es bleibt das Schreiben um diese Einsamkeit zu durchbrechen und der Welt für einen kurzen Moment nahe zu sein. Nicht von ungefähr führen viele Texte daher zurück in die Kindheit des schreibenden Vaters, Texte, in denen kurze Momente der Direktheit und Unverstelltheit kindlichen Erlebens aufscheinen: Das besondere Gefühl, in einem „samisch“ aussehenden Pullover herumzulaufen, als sei der Junge selber Same oder auch Indianer; das Lustgefühl in meterhohe Schneewehen zu springen oder mit den alten Stiefeln des großen Bruders, die stark abgewetzte und daher rutschige Sohlen hatten, Abhänge hinter zu gleiten und Dank der Beschaffenheit der Sohlen mit Abstand der Schnellste zu sein und dadurch einen Winter lang (und faktisch auch das einzige Mal im Leben) alles erreicht zu haben, wovon er träumte – „Kleinigkeiten“ und aber eben auch das Eigentliche im Alltäglichen: Der Genuss des Augenblicks. Ein Genuss, der sich sogar bei dem Otter beobachten läßt, dem Knausgård mehrfach auf der kleinen und nahezu unbewohnten Insel begegnete, auf die er sich zum Schreiben zurückgezogen hatte. Nachdem es geschneit hat folgt er neugierig den Spuren seiner vierbeinigen Bekanntschaft und entdeckt einen Abhang mit Rutschspuren, an dem er einige Tage später tatsächlich den Otter ins Wasser rutschen sieht, als ginge es nicht um den schnellsten Weg ins Wasser sondern um den Genuß des Gleitens, jenem Einssein mit dem Augenblick, das auch das Kind Knausgård beim winterlichen Rutschen durch den Schnee empfunden hat. „Es gab keine praktische Begründung dafür, daß er rutschte, also mußte er es zum Spaß tun, aus reiner Freude daran“ – ein Gedanke, der wiederum Knausgård so berührte, daß er sich selber aus der (inneren) Einsamkeit des Inseldaseins lösen konnte: „Und der Gedanke, daß dieses einzelgängerische Wesen sich plötzlich über sein instinktgebundenes Wesen erheben und das Leben genießen konnte, schien wie eine Kerze in mir und war der erste Anstoß zu dem langsamen Aufstieg aus der Dunkelheit, den die nächsten Wochen brachten.“  
 
Ein wunderbares, poetisches Buch über das Große im Kleinen, eine Liebeserklärung an das Leben und auch an die Möglichkeiten der Literatur. Dieses gar nicht so schwere Winterbuch macht viel Lust auf „Im Frühling“, das nächste Buch der Reihe, das im Frühjahr erscheint.  

Cornelia Manikowsky
 
Karl Ove Knausgård - „Im Winter“.
Mit Bildern von Lars Lerin
© 2017 Luchterhand Literaturverlag, 320 Seiten Gebunden - ISBN 978-3-630-87515-6
22,- €