Ein Lehrstück in Wissen, Moral und Demut
Karl Philipp Moritz´ „Neues ABC-Buch“
In diesem Buche stehen Bilder und Buchstaben.
Das erste Bild stellt das Auge vor, womit ich die Bilder sehe.
Wir leben in einem Zeitalter der digitalen Kommunikation, welches das Lesen und das Schreiben, zumal von und mit der Hand, ganz offenbar wieder zu einer höheren Kunst zu machen scheint. Hört man doch Hochschulprofessoren beklagen – und die Realität belegt es dramatisch – daß Erstsemester an den Universitäten regelmäßig zunächst Schreib- und Grammatik-Kurse belegen müssen, um den Mindestanforderungen eine Studiums der Literaturwissenschaft oder der Germanistik genügen zu können. Aber Augenblick mal: Haben jene Menschen nicht an einer höheren Lehranstalt erfolgreich ihr Abitur abgelegt? Man ist versucht, diesen Jungakademikern eine Fibel in die Hand zu geben und ans Herz zu legen, die vor rund 230 Jahren ein pädagogischer Markstein wurde, nämlich „Neues ABC-Buch“ von Karl Philipp Moritz (1756–1793). Das wäre sogar möglich, hat doch der Verlag Antje Kunstmann dieses kleine Meisterwerk aktuell neu aufgelegt. Ausgestattet mit hinreißenden Illustrationen des Graphikers Wolf Erlbruch begeistert Moritz´ Bildung vermittelndes Werk durch Erlbruchs Interpretation als Gesamtkunstwerk aus Bild und Sprache. Entstanden 1790/94 hat es von seiner Gültigkeit schlechterdings nichts verloren.
Karl Philipp Moritz, dessen autobiographisch gefärbter Entwicklungsroman „Anton Reiser“, seine „Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788“ und seine „Ästhetischen Schriften“ wohl größten Anteil an seinem fortdauernden Ruhm haben, befaßte sich Zeit seines kurzen Schaffens, er starb bereits mit 36 Jahren, intensiv mit pädagogischen, linguistischen und syntaktischen Themen. So sind u.v.a. „Versuch einer deutschen Prosodie, Abhandlung“ (1786), „Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik“ (1786), „Italienische Sprachlehre für die Deutschen“ (1791), „ Lesebuch für Kinder“ (1792), „Vom richtigen deutschen Ausdruck“ ( 1792), „Allgemeiner deutscher Briefsteller“(1793) und „Kleine practische Kinderlogik, welche auch zum Theil für Lehrer und Denker geschrieben ist“ (1815) überliefert.
Genial war und ist Karl Philipp Moritz´ lehrreiche Fibel, das ABC-Buch. Hier nämlich vereint der Autor die Vermittlung der 26 Buchstaben unseres Alphabets mit der Beschreibung wichtiger gesellschaftlicher, alltäglicher und moralischer Grundsätze und Erklärungen. Der Jahres-Kreislauf der Natur, Arbeit, Leben und Tod, die Vergänglichkeit menschlicher und dinglicher Existenz, die Bedeutung von Verstand, Tugend, Genügsamkeit und Bildung wird eindrücklich durch kurze logische Texte nahegebracht. Moritz ebenbürtig hat Wolf Erlbruch Zeichnungen und Kollagen geschaffen, die jedem Text eine bildliche Entsprechung sind – und das so, als seien die Bilder gleichzeitig mit den Texten entstanden.
Was den besonderen pädagogischen Wert dieser Einheit von Wort und Bild ausmacht, ist der stete Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Menschen, die Aufforderung, sich der Natur anzupassen, sich gegenseitig zu helfen. Bescheidenheit und Demut, in unseren Tagen nahezu abhanden gekommene Qualitäten, hatten zu Moritz´ Zeit einen hohen Stellenwert. Allein die Vermittlung dieser Tugenden und der weiteren in diesem wundervollen Buch sichtbar gemachten lohnt die Lektüre.
Das großartige Buch verdient für Text, Bilder und Layout höchste Anerkennung. Es hat unsere Auszeichnung, den Musenkuß, allemal verdient. Darüber hinaus wird es (der Februar-Titel war schon besetzt) im März unser Buch des Monats sein.
Kein Mensch muß den anderen gering schätzen.
Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu sein.
Karl Philipp Moritz – „Neues ABC-Buch“
Mit Illustrationen von Wolf Erlbruch und einem Nachwort von Heide Hollmer
© 2000/2018 Verlag Antje Kunstmann, 72 Seiten, gebunden, ca. 23 x 34 cm – ISBN: 978-3-95614-225-3
20,- €
Weitere Informationen: www.kunstmann.de
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