Die Konferenz von Evian

Joachim Thies - „Evian 1938 – Als die Welt die Juden verriet.“

von Johannes Vesper

Evian 1938: Als die Welt die Juden verriet
 
Ein Appell an die Menschlichkeit
 
Vor 80 Jahren hatte der amerikanische Präsident Roosevelt 32 Staaten eingeladen. Die antijüdischen Exzesse beim Anschluß Österreichs hatten ihn dazu veranlaßt. Die Flüchtlingssituation in Europa sollte diskutiert und Hilfe angeboten werden. 1933-38 hatten ca. 50.000 Juden aus Angst vor zunehmenden Repressalien Nazi-Deutschland verlassen. Den Holocaust in seiner ganzen Brutalität und industriellen Effizienz konnte sich zu dieser Zeit noch keiner vorstellen. 500.000 Juden lebten noch in diesem Deutschland, dessen Gesellschaft den Nazi-Terror gegen die jüdischen Nachbarn tolerierte, wenn nicht unterstützte. Vor allem die Denunziation der Mitbürger damals hatte das Verfolgen, Aufspüren und Ausplündern der jüdischen Nachbarn ermöglicht
 
Von den 32 Delegationen kamen 9 aus europäischen Staaten, 20 aus Südamerika, 3 aus dem Commonwealth. Roosevelt hatte darauf verwiesen, daß „schon in den 1848er Jahren die USA für so viele hervorragende Deutsche ein Zufluchtsort war. Warum können wir ihnen jetzt nicht eine Heimstatt anbieten“. Sowohl der französische Gastgeber wie auch der amerikanische Chefdelegierte sprachen bei ihrer Analyse der Flüchtlingsproblematik nicht über Hitler. Das Wachstum der Weltbevölkerung erzwinge eine Migration und die Arbeitslosigkeit in den aufnehmenden Ländern begrenze die notwendige Aufnahme von Flüchtlingen. Der englische Delegierte weist darauf hin, daß England wegen seines hohen Industrialisierungsgrades und seiner dichten Besiedlung keine Flüchtlinge aufnehmen könne. Der spezielle Antisemitismus in Deutschland mit der Konsequenz des Holocausts geriet überhaupt nicht in den Blick. Hitler genoß im europäischen Ausland durchaus auch Sympathien als Bollwerk gegen den Bolschewismus. Die Schweiz befürchtete ihrerseits nach dem Ansturm jüdischer Flüchtlinge aus Österreich eine „Verjudung“ des Landes und verurteilte einen St. Galler Polizeihauptmann, der hunderte von österreichischen Flüchtlingen die Grenze passieren ließ, wegen Verletzung seiner Amtspflicht und Urkundenfälschung. Kein Staat wollte größere Flüchtlingszahlen aufnehmen. Die Diplomaten damals argumentierten mit der schlechten Wirtschaftslage, mit ungeeigneten Arbeitsmarktprofilen der Flüchtlinge. Man befürchtete Überfremdung, Verlust der Balance in der Bevölkerung, Entsolidarisierung der Sozialsysteme. Die Konferenz von Evian 1038 konnte sich nicht zu konkreten Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge durchringen. Man verabredete lediglich, ein internationale Koordinierungsstelle für die Flüchtlinge in London einzurichten, in der Hoffnung drohendes Chaos zu vermeiden. Welche Aktualität dieses Buch hat, wird deutlich beim Blick z.B. in die Süddeutsche Zeitung vom 22.02.18 (zufällig ausgewählt): Dort findet man folgende Meldungen:
Seite 1: „Macron geht härter gegen Migranten vor. … Frankreich kann nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen.“ - „66% der Franzosen hält die Einwanderungspolitik von Präsident Macron für zu lax.“
S. 7: „Aus Protest gegen ihre drohende Ausweisung aus Israel haben hunderte afrikanische Einwanderer einen Hungerstreik begonnen….Wer von ihnen die Ausreise nach Ruanda oder Uganda ablehnt, kommt ins Gefängnis.“
S. 15 Hans Joachim Schädlichs neues Buch über den jüdischen Maler Felix Nussbaum endet: Der 26. Transport mit 563 Personen, darunter 47 Kindern, verließ Mechelen am 31.Juli 1944 und erreichte Auschwitz am 2. August. (Felix und Feika, Rowohlt Verlag, 204 Seiten, Rezension von Ulrich Rüdenauer)
 
Das Problem Europas mit Flüchtlingen aus Nahost und Afrika ist zahlenmäßig bei weiterem gravierender als das Problem der jüdischen Flüchtlinge 1938 aber Argumentation und Ergebnislosigkeit der 1. Konferenz von Evian gleichen dem heutigen Umgang mit Flüchtlingen in Europa. Bemerkenswert, daß die Organisation und Koordinierung Aufnahme der Flüchtlinge im September 2015 von Kanzleramtsminister Altmeyer von Evian aus, dem Konferenzort von 1938, organisiert wurde, der sich zu diesem Zeit zufällig dort aufhielt. Die Tiefe der Entscheidung vom September 2015, die in Ungarn gestrandeten syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, ist schwer zu ermessen und betrifft auch folgende Generationen. Vielleicht ist der Brexit eine Folge dieser Entscheidung der Bundeskanzlerin. Jedenfalls spielte das Thema „Einwanderung“ eine bedeutende Rolle bei der knappen Brexit-Entscheidung. Auch die erstaunliche Entwicklung des Rechtspopulismus in Polen und Ungarn ist wahrscheinlich Folge dieser Entscheidung. Offensichtlich benötigen die Jahrzehnte unter Fremdherrschaft gelitten habenden osteuropäischen Länder nach der Wende von 1990 noch länger Zeit, um ein vernünftiges und weltoffenes Selbstbewußtsein zu entwickeln, mit dem sie auf de Herausforderungen der Migrantenströme reagieren könnten. Wahrscheinlich gilt das sogar auch noch für Ostdeutschland. Die Bundeskanzlerin hat sich mit ihrer Entscheidung für die Aufnahme der Flüchtlinge über Ängste der Bevölkerung und über die seit Evian 1938 bekannten politischen Argumente hinweg gesetzt und damit Entwicklungen befördert, die unausweichlich scheinen, wenn die Welt den Krieg im Nahen Osten nicht beenden und die Lebensbedingungen in Afrika nicht grundlegend ändern kann. Vielleicht hätte Hilary Clinton, wenn sie denn gewählt worden wäre, zusammen mit Angela Merkel in Europa das Ruder der Welt herumreißen können. Welch eine Perspektive?
 
Den Berichten über die 10 Tage dauernde Konferenz in Evian liegen zeitgenössische Quellen zu Grunde. Den Berichten gegenüber gestellt sind authentische Berichte von jüdischen Zeitgenossen, die über ihr Schicksal berichten. Was sagt das offizielle Nazi-Deutschland zu dieser Konferenz? In Epilog und Exkurs wird die Problematik der aktuellen Flüchtlingssituation in Europa und die des Nahen Ostens dargestellt und der Bezug zur Geschichte hergestellt. Das Werk von Joachim Thies (Historiker, Romanist, Journalist,) leuchtet die verschiedenen Aspekte dieser Schicksalsfrage Deutschlands und Europas aus. Sehr empfehlenswert.
 
Joachim Thies - Evian 1938 – Als die Welt die Juden verriet.
© 2017 Klartext Verlag Essen, 198 Seiten, Broschur - ISBN: 978-3-8375-1909-9
18,95 €
Weitere Informationen: https://klartext-verlag.de