Seh-Reise (9)

Neunte Ausfahrt: Hans Thoma

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (9)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
9. Ausfahrt: Hans Thoma

Ein Stück Natur im Frühling. April wahrscheinlich, Übergangszeit.
Wiese, ein Wäldchen, Vorgebirge verblaut im Fernen, darüber lastet, zwei Drittel des Bildes, ein mächtiger Wolkenhimmel. Der Augenblick vor oder nach Regen. Menschen nur am Rande, Staffage. Nicht zu erkennen, ob Frau oder Mann da in dem offenen Einspänner, den ein Schimmel über den gelben Sandweg zieht quer durch den Wiesengrund.
Doch auf der Natur, die der Maler Hans Thoma auf der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in Öl festhält, liegt die Hand des Menschen, auch wenn er selbst in figura so gut wie abwesend ist. Die Schmalseite eines dreistöckigen Gebäudes, in lichtem Gelb verputzt, beinah in der Farbe des Sandwegs. Das Mansarddach, mit Schiefer gedeckt, vor allem sein Türmchen, zeigt die Sprache späten Barocks. Ein Stadtschloß, inmitten eines kleinen Waldes, überragt von Laub- und Nadelbäumen. Solange sie, wie jetzt im Frühling, noch kein Laub tragen, kann die Architektur sich noch behaupten vor der Natur. Mit seinem Wäldchen füllt das Schloß den Mittelpunkt des Bildes, eine Insel gesellschaftlichen Lebens. Das dichte Braun und Grün um das Palais ist aufgehellt am Rand von weißblühenden Hecken der Schlehe, ehe es sich dann auflöst in das Wiesengelände, mit einzelnen Obstbäumen, Apfel und Kirsche, alle noch in der Nacktheit des Winters. Ein Bächlein schlängelt sich von der Schloßseite auf den breiten Sandweg zu, der ihn längst verschluckt hat. Der Passant/die Passantin im Einspänner wird gleich gar nicht mehr merken, daß es über Wasser geht.
Erst bei genauem längeren Hinschauen wird sichtbar, wie stark die Eingriffe des Menschen die Landschaft geformt haben, über Haus und Weg hinaus. Es ist bereits eine zutiefst kulturierte Landschaft, wenn auch noch nicht in der Endform eines dressierten Parks.
 
Der Titel des Bildes faßt den Umwandlungsprozeß in Worte, den der Maler in seinem Bild festgehalten hat, bewußt oder nicht: „Die Oed (Holzhausenpark)“. Das öde Land, der Wiesengrund am Ufer des Mains, ist auf dem Weg zu seiner völligen Unterwerfung unter die Bedürfnisse der Menschen in der nahen und immer näherrückenden Großstadt Frankfurt.
Wenn ich heute durch den Holzhausenpark gehe, dicht umbaut vom Stadtteil Westend, sind die Spuren des Natürlichen, die ein Hans Thoma noch vorfand und die ihn vielleicht zum Malen reizten, endgültig getilgt. Auf der „Oed“ erstreckt sich jetzt das Freizeitgelände von Stadtbewohnern, die der Versteinerung und Einbetonierung ihres Lebensraums, die sie sich geschaffen haben in den letzten hundert Jahren, entfliehen wollen in das, was sie heutzutage als Natur bezeichnen. Daß unter den Trimmpfaden und den voll belegten Ball- und Liegewiesen einmal die Öde war, kann keiner von denen mehr ahnen, die hier aus den nahen Bürohochhäusern kommen, um im Grünen ihr Mittagsbrot vom Schnellbäcker zu essen und in der Natur zu entspannen. Ob ihn, wenn er es wüßte, die Vorstellung von Wildheit erschreckte?


Hans Thoma, Die Oed (Blick auf den Holzhausenpark) 1880

Der Maler aber hat, bewußt oder nicht, seinen Kommentar dazu gegeben. Es ist der Himmel, die Wolken in ihrer drückenden Dichte, die grau die Erde überspannen. Weitaus den größten Raum der Leinwand nimmt er ein. Das Himmelsgelände entzieht sich, damals wie heute, jeder Domestizierung. Hier ist der Mensch genötigt, innezuhalten und es geschehen zu lassen. Er hat dieses Bild, das den Blick aus einem Fenster festhält, oft gemalt, zu verschiedenen Jahreszeiten, als habe er die Vergänglichkeit des Motivs geahnt und es für alle Zeit festhalten wollen. Spät erst entdecke ich, ganz unten am Bildrand, zwei Pfauen. Der eine hat sein Schwanzgefieder zum goldbunten Rad aufgefaltet. Der Pfau, die zum Sinnbild gewordene Eitelkeit, bis zum Lächerlichen. Hier, im Wiesenschaumkraut der einstigen „Oed“, hat seine Geste etwas unendlich Beziehungsloses und Fremdes.
Was mag der Maler sich dabei gedacht haben, als seine Hand diesen Exoten aus Hinterindien auf eine Flußwiese im mittleren Deutschland pflanzte? Es bleibt nicht die einzige Frage, wenn ich vor Hans Thomas Gemälde im Frankfurter Städel stehe und versuche, Ähnlichkeiten mit dem heutigen Holzhausenpark darin zu entdecken.
 
Hans Thoma, Die Oed (Holzhausenpark)
Städelsches Kunstinstitut in Frankfurt am Main
 
Redaktion: Frank Becker