Die Augen des Nuba (1)

Erzählung

von Wolf Christian von Wedel Parlow

Die Augen des Nuba (1)
 
 
„Konnte das denn sein? Daß einige Menschen ungeschoren
davonkamen? Und niemals ein Ausgleich stattfand? Kein Gott,
der für sie alle mitrechnete? Waren ihre tiefen Schuldgefühle
ein Vorauseilen diesem nicht existierenden Gott gegenüber, für
den Fall, daß er vielleicht doch existierte?
Ulla Lenze, Die endlose Stadt
 
Als Rick zur Dusche ging, stand nur noch ein Eimer Wasser da. Er war also wieder der letzte. Er stellte den Eimer in die Duschkabine und nahm die Blechdose vom Haken, in deren Boden ein schlauer Kopf sechs oder sieben Löcher getrieben hatte. Sogar einen Henkel hatte jemand an die Dose aus nicht rostendem Material gelötet. Ganz schön erfinderisch, die Leute von der Nationalen Wasserverwaltung, der NWA, wie sie hier allgemein hieß, dachte Rick. Er tauchte die Dose ins Wasser und hielt sie sich über den Kopf. Ein paar Sekunden lang genoss er das Gefühl, unter einer richtigen Dusche zu stehen. Wahrer Luxus tief im Süden Kordofans. Auch weil Omar, der weißhaarige Wirt des Gästehauses der NWA, jeden Morgen vier Eimer Wasser heranschleppte, für jeden von ihnen einen und einen für die Küche. Er holte sie von der nahe gelegenen Dieselpumpe. Vor Jahren hatte das Gästehaus noch fließendes Wasser. Rick sah es an den offen liegenden Leitungen zum Duschraum und dem Küchentrakt und der Brause über seinem Kopf. Offensichtlich hatte es damals einen Aufwärtstrend gegeben, der aus irgendwelchen Gründen geknickt war. Vielleicht ist es nur eine Scheinblüte gewesen, und das Land ist auf sein Normalniveau zurückgekehrt, erwog er, als er sich wortlos zu den beiden anderen an den Frühstückstisch setzte.
       „Morgen“, sagte Robert und sah ihn an, als ob etwas nicht mit ihm stimmte. Dabei wußte er, daß Rick morgens nur schwer in Gang kam. Das war so ein Tick, den sich Robert angewöhnt hatte. Besorgt gucken, ob Rick in Ordnung war. Alles nur, weil Nora ihm eingeschärft hatte, sich um Rick zu kümmern. Rick, das Sorgenkind. Den Fürsorgerblick sah ihm Rick nach. Der gehörte irgendwie zu Roberts Berufsqualifikationen. Wie hätte er sonst Koordinator eines wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs werden können. Und war es nicht gerade diese Befähigung, derentwegen ihm Rick vorgeschlagen hatte, ihn auf dieser Reise zu begleiten?
       „Adam wird in zehn Minuten hier sein“, sagte Claudia.
       „Jawohl, Frau Gouvernante, ich beeile mich ja schon“, sagte Rick und nahm sich die Schüssel mit den gebratenen Schafsnieren und leerte sich den Rest auf seinen Teller, obwohl er wusste, daß er sich zurückhalten sollte mit dem Fleischkonsum, seitdem ihm der Japaner vom Unicef-Büro in Khartum erklärt hatte, die Schmerzen in seinen Füßen rührten von übermäßigem Fleischverzehr. Aber die von Omar jeden Morgen gebratenen Schafsinnereien schmeckten allzu gut.
       Es war ihm zunehmend peinlich, wie er sich Claudia gegenüber benahm. Anfangs war er ihr gegenüber noch ganz als der zuvorkommende Gentleman aufgetreten. Schließlich hatten sie allein ihr zu verdanken, daß sie jetzt hier waren. Sie war Unicef-Mitarbeiterin, und wenn sich ihr regulärer Arbeitsplatz auch in Deutschland befand, so genoss sie hierzulande doch ein beträchtliches Ansehen, weil sie einer Organisation angehörte, die sich der Verbesserung der Wasserversorgung im Südkordofan verschrieben hatte. Handpumpen hatte Unicef zu diesem Zweck in den Dörfern installieren lassen. Und Claudia hatte darüber in einer überregionalen deutschen Zeitung berichtet. Rick hatte daraufhin Kontakt zu ihr aufgenommen und sie davon zu überzeugen versucht, daß man unbedingt untersuchen sollte, wie sich diese Handpumpen auf die Land-Stadt-Wanderung auswirken. Denn möglicherweise handle es sich um ein gutes Beispiel für Maßnahmen, mit denen man die Dorfbewohner bewegen könne, ihre Zukunft eher auf dem Land als in der Stadt oder gar in Europa zu sehen. Rick war es gelungen, sie für so eine Untersuchung zu erwärmen – mit ihm als dem Experten, der die Untersuchung durchführen würde, und sie hatte bei ihrer Organisation eine Einladung für ihn erwirkt. Er hatte also allen Grund, ihr dankbar zu sein. Aber irgendwie trug diese Dankbarkeit nicht. Sie hatte sich immer mehr mit dem Gefühl einer Beschämung vermischt, weil er Roberts Sticheleien gegenüber Claudia ungebremst ins Kraut schießen ließ. Ja manchmal sogar mitmachte bei der Veralberung ihrer Wohltäterin. Es war eine Art Gruppenzwang, so wie er früher mitgemacht hatte, wenn sie in der großen Pause den einzigen Duckmäuser in der Klasse allein herumstehen ließen. Aber Claudia, diese verhärmte Weltverbesserin Ende Vierzig, war nun mal das gefundene Opfer. Wäre sie eine lebenslustige Kämpferin gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt gewesen, am besten nicht älter als Mitte Zwanzig, so hätte Robert wahrscheinlich die weniger groben Seiten seines Wesens hervorgekehrt, Rick sowieso.
       Nun aber schämte sich Rick seines Verhaltens. In wenigen Minuten würde Adam el Doma eintreffen, der Mann, den Claudia bewogen hatte, Rick als Dolmetscher zur Seite zu stehen. Wieder ein Grund, Claudia dankbar zu sein. Denn einen besseren Mann für diese Aufgabe als diesen gutmütigen Schwarzen konnte sich Rick nicht vorstellen. Nicht nur daß Adam spielend vom Arabischen ins Englische zu wechseln verstand, er kannte sich auch in den Dörfern aus. Er war der Hydrologe, der bestimmt hatte, wo nach Wasser gebohrt werden sollte.
       Als Adams Landrover vor dem Gästehaus ausrollte, hatte Rick sich schon die Zähne geputzt. Er konnte auch schnell sein. „Nimat does not come with us today,“ erklärte Adam. Er sah dabei Rick an. Aber Rick gab sich stoisch. Claudia hatte ihnen das bereits angekündigt. Sie werde heute mit Nimat einige am Rand von Kadugli hausende Nuba-Familien besuchen und sich ein Bild von deren Ernährungs- und Gesundheitssituation machen.
       Nach Daloka und Kolulu, zwei Dörfern am südwestlichen Rand der Nuba Berge, würden sie heute fahren, ungefähr 20 bis 30 Kilometer von hier, sagte Adam. Rick hatte die Planung und Durchführung der Feldforschung ganz in seine Hände gegeben. Adam bestimmte nicht nur, welche Dörfer sie aufsuchten, auch die Befragung führte er selbständig durch und trug die Antworten der Dörfler eigenständig in die dafür vorgesehenen Listen ein.
       Der Weg nach Süden war ausgefahren. Tiefe Querrillen brachten den Landrover zum Tanzen. Rick klammerte sich an den Türgriff, um nicht hin und her geworfen zu werden. Mit Nimat neben sich auf der Rückbank hätte es mehr zu lachen gegeben.
       Das Land rechts und links des Weges war flach, bevor es an irgendwelche Hügel stieß. Das rechts seien die Miri Hills, links die Nuba Mountains, erläuterte Adam. Es sah nach aufgegebenen Feldern aus. Baumwolle sei hier früher angebaut worden.
       „Aha“, sagte Rick, „das große Baumwollprojekt von Kadugli.“Sie hielten neben zwei mit Brettern vernagelten kubischen Lehmhütten.
       „Daloka“, sagte Adam, als sie ausstiegen.
       „Und diese Hütten?“
       „Das waren Läden. Sind längst aufgegeben worden, seit kein Geld mehr fließt aus der Baumwollindustrie.“
       Sie wandten sich dem schilfgedeckten Sonnenschutzdach zu. Drei weißhaarige Männer lagerten dort auf ihren Angarebs, wohl die Dorfältesten. Der mit den eingefallenen Wangen winkte den neugierig aus einer der Rundhütten lugenden Jungen, woraufhin die drei weitere Angarebs heranschleppten und in ein paar Metern Abstand stehen blieben, in ihren kurzen Hosen, und sich kichernd anstießen. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, daß hier Europäer vorbeischauten. Und ein europäisch gekleideter Schwarzer wie Adam el Doma, obwohl der hier natürlich bekannt war. Er hatte hier vier Brunnen bohren lassen. Ihn begrüßten die Alten als erstes. Mit der unter Arabern üblichen Umarmung. Man fasste sich an den Schultern und deutete einen Kuß erst auf die linke, dann auf die rechte Wange an. Dazu die bekannte Grußformel: „Alhamdulillah …“Auch Rick und Robert wurden so begrüßt, nachdem Adam ihr Anliegen erläutert hatte.
       Die Jungen kicherten wieder, jetzt wohl über die Unbeholfenheit der Fremden, die nicht gleich wussten, wohin mit den Händen, als sie bei der Begrüßung beherzt an den Schultern gepackt wurden. Rick dachte an die Kugelschreiber, die er den Jungen später zustecken wollte. Warum waren sie eigentlich nicht in der Schule? Gab es hier keine? Und wo blieben die Mädchen?
       Adam zog das Schreibbrett aus seiner Tasche. Obenauf war das Blatt mit den Fragen geklemmt, die Rick an seinem Uni-Schreibtisch formuliert hatte, vorsorglich auf Englisch. In der linken Spalte die Fragen, rechts war Platz für die Antworten. Die Verkehrssprache war Arabisch. Schon in Dara hatte Adam bewiesen, daß es ihm keine Mühe machte, auf Arabisch zu fragen, was Rick auf Englisch vorformuliert hatte. Unter den Dörflern gab es jedes Mal ein Hin und Her, oft in ihrem Nuba-Dialekt, bis sie sich auf eine Antwort geeinigt hatten, die Adam dann für Rick ins Englische übersetzte, um ihm Gelegenheit für Rückfragen zu geben. So konnte sich Rick während des Interviews entspannt zurücklehnen und die Mienen der Dörfler beobachten.
       Einer der Alten, vielleicht der jüngste, fesselte ihn besonders. Er sagte kaum etwas, schien aber mit seinen Gesten, oft nur eine Handbewegung, ein seine Zweifel andeutendes Wiegen des Kopfes, ein Zustimmung gebendes Nicken, die eigentliche Autorität der drei Alten zu sein. Erst wenn er dem, was die beiden anderen meinten, zugestimmt hatte, bekam Adam Bescheid. Offizieller Sprecher der drei Alten schien der mit den eingefallenen Wangen zu sein. Denn der war es, der sich mit der nunmehr autorisierten Antwort an Adam wandte. Dabei wurde offenbar, daß sein Gebiss, vielmehr die fehlenden Zähne die Ursache der eingefallenen Wangen waren. Er war der Älteste, und mit zunehmendem Alter fiel nun mal ein Zahn nach dem anderen aus. So war das eben.
 

© 2017 Wolf Christian von Wedel Parlow
 
Lesen sie den zweiten Teil und Schluß morgen an dieser Stelle