Ah!- Ruedi Widmers Berichte aus der wirklichen Welt

Ruedi Widmer – „Widmers Weltausstellung“

von Robert Sernatini

© 2018 Rotpunkt Verlag

Ah!
 
Ruedi Widmers Berichte aus der wirklichen Welt
 
Ruedi Widmer ist Schweizer, und ganz offensichtlich ist er Schweizer aus Passion. Das zeigen nicht zuletzt seine ausgewählten Kolumnen, die inhaltlich dem deutschen Leser nicht unbedingt zugänglich sein müssen, sofern sie regional und national politisieren und Schweizer Nationalprobleme aufs Korn nehmen. Jedes ansonsten angeschnittene Thema allerdings wird von ihm mit einer bemerkenswerten Allgemein- bis Weltgültigkeit angefaßt, die es global verständlich macht. Einen »Verorter von Lächerlichkeiten« nennt ihn der Verlagstext zu dem wunderbaren Buch, das ich Ihnen heute hier vorstelle. Das ist so gut formuliert, daß man eigentlich nur noch draufsetzen möchte, daß er ein göttlicher Befindlichkeits-Seismograph ist. Oder um es mit dem Titel seiner sensiblen Kolumne im Winterthurer „Landboten“ zu sagen: Ruedi Widmer löst „Die letzten Geheimnisse einer rationalen Welt“.

 
Patrick Heggelin hat verdienstvoll für den Rotpunkt Verlag die Aufgabe übernommen, das Werk Widmers für einen Auswahlband zu sortieren und auszuwählen. Mehr muß man auch nicht tun, denn an den Texten ist nichts zu glätten, und die Cartoons und Strips bedürfen keiner Einführung oder Interpretation. Der frühere Titanic-Redakteur Stefan Gärtner leitet in freundschaftlicher Verbundenheit mit Widmer das Buch ein, wobei er sich auf Seite 6 arglos der Verfolgung durch die deutschen Verfassungsschutz-Dienste aussetzt, als er sich mit gewissem Hautgout als „Reichsdeutscher“ outet. Mann, Gärtner, das hätt´s nicht gebraucht. Aber lustig ist das schon ein bißchen.
Wir finden also auf 168 köstlichen Seiten Kolumnen, Cartoons und Strips zu Pegida und Burka, Finanzkrise und Klimawandel, Migration und Rechtsrutsch, Kunst und Politik, … und Telefon. Zum Thema „Telefonieren heute“ möchten wir Ihnen die gleichnamige Kolumne hier als Muster mit Wert präsentieren:
 
Telefonieren heute
 
Ruedi Widmer über Bärentelefoníe
 
Unser Söhnchen ergreift seit einiger Zeit wahllos einen Gegenstand, führt ihn ans rechte Ohr und beginnt mit bedeutungsvoller Miene etwas zu plappern. Unser Söhnchen, das bis jetzt weder laufen noch richtige Wörter sagen kann (aber einige erfreuliche Laute vom Bauernhof), kann telefonieren. Kürzlich hat er mit einem Stoffbären telefoniert. Aber der Bär war nicht der Gesprächspartner, sondern der Bär war das Telefon. Alles ist Telefon.
Meine Frau hat jetzt ein iPhone. Es wäre aber vermessen zu sagen, des Söhnchens Telefonbegeisterung hätte mit dem iPhone zu tun, denn meine Frau telefoniert mit dem iPhone praktisch nicht, sondern sie schreibt E-Mails und hat so ein Gitarren-Stimmgerät heruntergeladen und spielt jetzt praktisch Gitarre mit dem iPhone. Die Gitarre ist das Telefon. Alles ist Telefon.
Die elterliche Angst, zu viel vor dem Kind mit dem Handy zu telefonieren und ein Handy-Kid heranzuzüchten, ist unbegründet. Denn wir haben ja auch ein Funktelefon am Festanschluss. Wir haben nirgends ein Telefon mit einem Hörer und einer Gabel und einem Kabel, geschweige denn einer Wählscheibe. Noch immer verkauft die Spielzeugfirma Fisher-Price bedenkenlos ein Telefon mit Gesicht auf Rädern, einer Wählscheibe und einem Hörer. Die Kinder sitzen dann darum herum und wissen gar nicht, was das für ein Gegenstand sein soll. (Notabene wird dieses bereits seit meiner eigenen Kindheit erhältliche Gerät nur noch mit einem lächerlich kurzen Kabel verkauft, wegen Strangulationsgefahr. Ein weiterer Grund, auch im Kinderzimmer auf die drahtlose Telefonie umzustellen.)
Unser Söhnchen hat jetzt ein rotes drahtloses Kinderblinkpiepstelefon bekommen statt des blöden FisherPrice-Telefons. Nachdem es damit herumgepiepst hat, begann es erneut, mit Bleistiftetuis, Turnschuhen und Plastikenten zu telefonieren, auch wenn die Swisscom das nicht gerne sieht. Die Swisscom hat ja schon genug Kunden an die Skype-Telefonie (Internet, gratis) verloren. Wenn jetzt noch das Söhnchen mit seiner Bärentelefonie den Markt betritt, dann platzt wohl CEO Carsten Schloter endgültig der Kragen.
Das Fisher-Price-Telefon beschäftigt mich. Es könnte mit ihm nämlich durchaus so sein wie mit der Dampflokomotive. Diese hat sich auch in die Gene der Menschheit eingepflanzt. Alle Kindergärtnerinnen zeichnen mit den Kindern, wenn sie einen Zug zeichnen, eine Dampflokomotive, obwohl kaum ein heutiges Kind je eine Dampflokomotive gesehen hat. Auch die Kindergärtnerinnen kennen die Dampflokomotive nur, weil sie sie in Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer gesehen haben.
Das Telefon mit der Wählscheibe, das Fisher-Price immer noch anbietet, ist und bleibt das Sinnbild für Telefon, auch wenn es in der Gegenwart nicht mehr existiert. Indianer haben bei den Kindern auch immer noch Federn auf dem Kopf und reiten auf Pferden. Dabei hängen heutige Indianer in Bars herum und sind Alkoholiker. Kinder zeichnen Räuber immer noch mit rauchender Pistole und Filzhut, obwohl diese heute aussehen wie Brady Dougan. Auch Neandertaler werden heute noch so gezeichnet, wie sie damals ausgesehen haben, obwohl ein heutiges Kind von ihnen nur noch Carl Hirschmann kennt, der ja praktisch wie wir alle aussieht. Katholische Priester werden immer noch mit Kleidern gezeichnet, obwohl sie diese heute praktisch nicht mehr brauchen.

Reinen Herzens rate ich Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, diese Buch zu erwerben, auf daß Sie für lange Zeit der Sorge um die Interpretation der Welt enthoben sind. Und allemal hat „Widmers Weltausstellung“ unsere Auszeichnung, dem Musenkuß, verdient.

Ruedi Widmer – „Widmers Weltausstellung“
Cartoons und Kolumnen
© 2018 Rotpunkt Verlag, 168 Seiten, gebunden, Fadenheftung, 19 × 23 cm, gebunden - ISBN 978-3-85869-777-6
29,- €