„Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein“

Der Doppelpunkt – Ein philologisches Problem in Goethes „Faust“

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein“
 
Der Doppelpunkt – Ein philologisches Problem in Goethes „Faust“
 
In einer großen Tageszeitung fand sich vor Kurzem ein Beitrag unter der auch hier angeführten Überschrift. Ein „Ortsvorsteher“ verlangte vehement, dass man die zerstörte dörfliche Infrastruktur unbedingt neu beleben müsse, damit man wieder sagen könne, „Zufrieden jauchzet Groß und Klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.“ Der literaturkundige Verfasser schrieb das Zitat aus Goethes „Faust“ (Verse 938-940) allerdings Wilhelm Busch zu, und der Zeitungsredakteur hat den Fehler nicht korrigiert.
 
Ob das Zitat aber tatsächlich genau den „Faust“-Text wiedergibt, steht dahin, denn es ist Teil einer widersprüchlichen Textgeschichte. Um den Widerspruch womöglich interpretatorisch zu klären, muss man zunächst ein wenig weiter ausholen.
 
Traditionell bezeichnet man die Zeit zwischen der Feier der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi als „Osterzeit“. In diesen Zeitraum fallen zwei Szenen in Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“: der Osterspaziergang und die Walpurgisnacht (die Nacht vor dem 1. Mai). Beide sind merkwürdig, aber unübersehbar miteinander verbunden. Mephisto hatte sich Faust erstmals am Ende des Osterspaziergangs in Gestalt eine Pudels genähert: Es ist der Anfang seines Versuches, den Gelehrten durch allerhand Versuchungen dahin zu bringen, dass er „Staub frisst“ wie einst die Schlange im Paradies; Faust soll seiner Menschenwürde entsagen, und das „mit Lust“ (Verse 334 f.). Der Höhepunkt dieser Verführungsversuche Mephistos ist die Teilnahme beider am Hexensabbat, während dessen Faust vor seinem unmittelbar drohenden schweren Fall nur durch eine visionäre Erscheinung Gretchens (Vers 4184) gerettet wird. Mephisto hatte schon zu Beginn der Weltfahrt mit Faust auf die Walpurgisnacht vorausgedeutet (Verse 2589 f.), als er der Hexe versprach:
 
            „Und kann ich dir was zu Gefallen tun:
              So darfst du mir's nur auf Walpurgis sagen.“
 
Beim gemeinsamen Spaziergang am Ostersonntag hatten sich der Professor Faust und sein Famulus Wagner einem Dorf genähert, wo die Bauern den Ostermorgen auf ihre Art feiern. Faust beschreibt deren Gefühle und Treiben und schließt mit dem zum Sprichwort gewordenen Satz „hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.“
 
Wenn der Leser seine „Faust“-Ausgabe aufschlägt, wird er als Satzzeichen vor diesen Worten entweder einen Punkt oder einen Doppelpunkt sehen. Goethes Handschrift und die verschiedenen Drucke zu seinen Lebzeiten bieten einmal einen Punkt, ein anderes Mal einen Doppelpunkt. Die „Faust“-Editoren müssen sich für eine Lesart entscheiden und tun das auch – meist ohne Begründung im Kommentar. Die vielgerühmte Ausgabe Albrecht Schoenes folgt 1994 dem Text der sogenannten Ausgabe Letzter Hand von 1829 und setzt dementsprechend einen Doppelpunkt; Erich Trunz, der die in der Nachkriegszeit und wohl bis heute am Weitesten verbreitete kommentierte Ausgabe 1949 herausgab, hatte sich für einen Punkt entschieden. Damit ergibt sich ein philologisch kaum lösbares Problem, da nicht sicher zu entscheiden ist, welches Satzzeichen der Intention Goethes entspricht. Im ersteren Fall 'jauchzen' die etwas grobschlächtig feiernden Bauern unisono: Hier, in solchen dörflichen Feiertagsfreuden, sind wir Menschen, hier und heute 'dürfen' wir's sein. Steht indes hinter diesem Vers ein Punkt, so spricht Faust zum Abschluss seines Monologs von sich und seiner Gestimmtheit. Die unterschiedliche Zeichensetzung führt notwendig zu unterschiedlichen Interpretationen.
 
Beschreibt das Wort von der Zufriedenheit (durch einen Doppelpunkt) das momentane Lebensgefühl der Bauern oder (durch einen Punkt) das des Doktor Faust? Man mag den Bauern die Einsicht nicht zutrauen, dass sie alltags in ihrem dörflichen Leben und Arbeiten keine rechten Menschen seien, sondern nur bei ausgelassenem, fröhlichem Treiben an hohen Feiertagen. Die Worte in Fausts Mund machen eher Sinn. Der etwas weltfremde Professor, der sich zuvor beklagt hatte, dass er sich selbst in seiner Studierstube wie in einem 'Kerkerloch' (Verse 398 f.) gefangen hält, atmet hier angesichts der erblühenden Natur und der unbeschwert um ihn herum Feiernden hörbar auf und fühlt sich ausnahmsweise einmal als mit sich und der Welt zufriedener Mensch. Damit ist er deutlich von seinem Famulus abgesetzt, der sich bei der täglichen Arbeit in seinem dumpfen 'Museum' am wohlsten fühlt und im Gegensatz zu Fausts Jubel über den Frühling sein Studium in 'holden und schönen Winternächten' preist (Verse 1106 f.).
 
Faust kehrt in dieser Hochstimmung in sein ihm selbst in der Nacht nun tatsächlich heller erscheinendes Studierzimmer zurück und wendet sich am Ende des ersten Ostertags bezeichnenderweise dem Neuen Testament zu. Nachdem er sich bei seinem österlichen Spaziergang einmal im vollen Wortsinn als „Mensch“ empfunden hat, dünkt ihn sein vorher verfluchter Arbeitsplatz jetzt wie eine trauliche Klosterzelle (Vers 1194), und er beschreibt die ungewohnte, beglückende Atmosphäre und seine dieser entsprechende Befindlichkeit mit den schönen Worten (Verse 1182-1185):
 
            Entschlafen sind nun wilde Triebe,
            Mit jedem ungestümen Tun;
            Es reget sich die Menschenliebe,
            Die Liebe Gottes regt sich nun.“
 
Mephisto, der in Gestalt eines Pudels mit in Fausts Stube gekommen ist, ist klug genug zu merken, dass er angesichts der Stimmung dieses mit sich Zufriedenen, sich mit der Welt und nun auch noch mit Gott in beglückender Harmonie Fühlenden für seine eigentlich geplante erste Attacke keine Chance hat, so dass er diese auf seinen nächsten Besuch verschiebt.
 
Es ist denn also doch wohl Faust, der sich schon beim Geläut in der Osternacht an seine Jugend erinnerte, als ihn die Osterglocken zu befreiendem Streifen durch „Wald und Wiesen“ (Vers 776) leiteten. Er hatte sich damals als Mensch gefühlt wie nun seit langer Zeit einmal wieder.
 
Künftige „Faust“-Editoren sollten sich also wohl besser für einen Punkt nach dem Vers „Zufrieden jauchzet groß und klein“ entscheiden. Die Verbesserung solcher Kleinigkeiten gehört auch zum Geschäft des Philologen, denn sie kann auf dem Weg zu einer überzeugenderen Interpretation hilfreich, wenn nicht gar unabdingbar sein.
 
Das gilt natürlich in noch höherem Maß für die Richtigstellung einzelner Buchstaben. Immer wieder liest man Goethes Diktum von den Gottesgaben in der Form:
 
            „Alles geben die Götter, die unendlichen,
            Ihren Lieblingen ganz,
            Alle Freuden, die unendlichen,
            Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“
 
An seine Brieffreundin Auguste zu Stolberg hatte er indes am 17. Juli 1777 geschrieben „Alles gaben ...“; veröffentlicht wurde der Vierzeiler in der angeführten Form nur einmal zu Goethes Lebzeiten, und zwar 1780 durch den Bruder der Briefempfängerin. Der Dichter selbst hat diesen Abdruck nie autorisiert.
 
Will man Goethes Intention richtig verstehen, muss man sich wohl buchstäblich an den Wortlaut seines Briefs halten, und dann erscheint das kleine Gedicht in einem ganz anderen Licht, als man es durchweg gewohnt ist. Es ist kein Trostspruch (etwa für die Hinterbliebenen eines 'Lieblings der Götter', der ein ganz erfülltes Leben geführt hätte), sondern eine resignative Einsicht, dass einstmals in den Zeiten der Antike oder auch der vergangenen eigenen Jugend die 'Götter' ihren Lieblingen 'alles' geschenkt haben, dass dem aber in gegenwärtigen Zeitläuften wohl nicht mehr so ist.
 
Auch bei Buchstaben und Satzzeichen ist der Philologe gefordert, der mit seiner Textkonstitution erst den Grund für alle weiteren seriösen Forschungen und Interpretationen zu einem Textzeugnis legen muss: in Ausübungen seiner „ehrwürdigen Kunst, die eine Goldschmiedekunst und Kennerschaft des Wortes“ ist und die „lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen“, wie der Altphilologe Friedrich Nietzsche sagt.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018