Die Leiden des jungen Ewaldts

Dietrich Rauschtenberger – „Ruhrstraße 33“

von Frank Becker

Im Maelstrom der Gefühle
oder
Die Leiden des jungen Ewaldts
 
Julius „Jülle“ Ewaldt ist im denkbar schwierigsten Alter, in dem ein Junge nur sein kann. Hineingeboren in den Zusammenbruch Deutschlands, aufgewachsen in den Hunger- und Aufbaujahren nach dem 2. Weltkrieg im fiktiven Städtchen Wacke am Rande des Ruhrgebietes, mit den Eltern, seinem vom Krieg zerrütteten, saufenden Vater Addi und seiner desillusionierten schönen Mutter Martha lebt er in beengten räumlichen Verhältnissen. Wie ein Naturereignis, das es ja auch ist, bricht nach einer rauhen Kindheit unter derben Freunden die Pubertät mit all ihren beängstigenden Begleiterscheinungen, drängenden Fragen, Zweifeln, Rätseln und Verlockungen über ihn herein. Wo eben noch die „Bande“ mit Ötte, Fossi und Mommer im Mittelpunkt stand und Mädchen nur lästig waren, tauchen plötzlich die bezaubernde Anneliese (erste große, tief im Zwerchfell zu spürende Verliebtheit, natürlich bei einer Klassenfahrt in der Jugendherberge, wo sonst), die burschikose aber liebe Evi Busse, die üppig ausgestattete, unerreichbare Marlies, die zuckersüße, berechnende und verdorbene ältere Kusine Regine und nicht zuletzt die reife Nachbarin Vilma Kramer mit ihrem großen Herzen auf den Plan. Brüste und das geheimnisvolle dunkle Dreieck unter den Röcken werden schlagartig interessanter als Wildwest-Hefte und gemeinsames Weitpinkeln mit den Jungs - und ja, auch starke Gefühle spielen mit einem Mal eine verwirrende Rolle. Dietrich Rauschtenberger, ein bildreicher Erzähler, erweist sich als Meister erotischer Prosa, aber auch der berührend zarten Gefühle. Lesen Sie einen kurzen Auszug:
 
Am nächsten Tag war die Abreise, ein nebeliger Freitagmorgen. Mit den anderen Kindern warteten Jülle und Anneliese inmitten von Rucksäcken, Koffern und Taschen auf die Züge, die sie nach Hause bringen sollten. Sie standen auf zwei verschiedenen Bahnsteigen, Jülle auf dem in Richtung Dortmund und Anneliese auf dem in Richtung Siegen. Die stählernen Gleise dazwischen bildeten ein unüberwindbares Hindernis. Es waren zwei Königskinder...
(…)
Jülle winkte und Anneliese winkte zurück. Als die Lokomotive in der Ferne pfiff, begriff er, daß sie in zwei verschiedene Richtungen fahren würden. Er würde sie nie wiedersehen. Er trat so nahe an die Bahnsteigkante, als wollte er über die Schienen springen, da spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Lehrer Schmidtke zog ihn sanft zurück. Anneliese winkte und er winkte zurück, bis der Zug einfuhr und ihnen die Sicht versperrte. Der Pfiff des Mannes mit der roten Mütze ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung. Watteweißer Dampf, der nach Ruß, Kohle und heißem Schmierfett schmeckte, umhüllte Jülle.
Als der Zug abgefahren war und Jülle wieder zu sich kam, war der Bahnsteig gegenüber leer. Etwas Unersetzliches war verloren.
Jülle spürte eine Hand auf dem Kopf. „Das geht vorbei“, sagte Lehrer Schmidtke. Jülle blieb einen Moment unbeweglich unter der Hand seines Lehrers stehen, dann schüttelte er sie ab und lief zu den anderen.
An den nächsten Abenden auf der Schlafcouch versuchte Jülle sich Annelieses Gesicht in Erinnerung zu rufen. Mit der Zeit verblaßte ihr Bild wie ein schlecht fixiertes Foto und eines Abends konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Das war grausam. Alles, was er noch hatte, war die Erinnerung an ein Leuchten, das die Dunkelheit erhellt hatte, in der er lebte. Er versuchte sich die Abschiedsszene auf dem Bahnhof vorzustellen, aber da war nur die Lokomotive und je mehr er sich anstrengte, desto mehr Dampf stieg von ihr auf und färbte schließlich das ganze Bild weiß. Das einzige, an das er sich erinnern konnte, war das Bahnsteigschild „Züge in Richtung Siegen“. Es war hoffnungslos.
 
Einen „Heimatroman“ hat Dietrich Rauschtenberger seinen kraftvollen, schwarzhumorigen Entwicklungsroman um diesen Jungen genannt, der mit klopfendem Herzen die Liebe und die drängende Lust zu spüren bekommt, ein Gefühl, das stärker ist als alles bisher gekannte - der aber auch mit zunehmendem Entsetzen anfängt, die Geheimnisse der Erwachsenen, ihre Lügen und ihre Untreue zu durchschauen, die der billige Kitt seiner bis dahin für einigermaßen heil gehaltene Welt sind. Und es ist in der Tat ein  Heimatroman von echtem Schrot und Korn. Jülles kleine, überschaubare Welt mit von Dietrich Rauschtenberger hinreißend gezeichnetem Personal, das jeder, nicht nur seiner Generation, sogleich erkennt, wird Jülle, der früher von der Romantik der Seefahrt, vom Raumflug und knallharten Abenteuern als Cowboy träumte, plötzlich wirklich zu eng.
Rauschtenberger läßt den Leser zunächst ohne Hast das Leben und die Situation seines Protagonisten kennenlernen, zieht im weiteren Verlauf des Geschehens nahezu unmerklich das Tempo an, einem Karussell ähnlich, das Fahrt aufnimmt und den Jungen erst langsam, dann immer schneller schließlich in rasender Fahrt aus seiner alten Welt hinausschleudert. An Jülles Konfirmationstag kulminiert das Geschehen in blankem Irrsinn, seine Welt kollabiert in einem aberwitzigen Fest, bei dem in einem grandiosen, Wenedikt Jerofejew würdigen Besäufnis im „Scharfen Eck“ alle über Kreuz aufeinandertreffen, jede Regel gebrochen, bürgerlicher Anstand geschlachtet wird, Hoffnungen, Illusionen und Liebe ad absurdum geführt werden und Jülles Welt auf eine Katastrophe zutreibt. In einem Maelstrom der Gefühle, der ihn unaufhaltsam mitreißt, kehrt er seiner zerstörten Heimat den Rücken.
 
„Verständlicherweise möchten Leserinnen und Leser gerne wissen, ob die Geschichte autobiografisch ist. Deshalb steht in vielen Romanen, dass die Personen und die Handlung ihres Romans frei erfunden sind und daß Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig wären. In einer Autobiografie sind Autor und Protagonist dieselbe Person. Das ist bei »Ruhrstraße 33« nicht der Fall. Das einzig „Autobiografische“ ist das Bild auf dem Cover. Es zeigt das vor ein paar Jahren abgebrannte und inzwischen abgeräumte Haus Wilhelmstraße 33, in dem ich von 1947 bis 1961 mit meinen Eltern gewohnt habe. (Deswegen die 33 im Titel.) Trotzdem bin ich nicht Jülle, ist Martha Ewaldt nicht meine Mutter und Addi Ewaldt nicht mein Vater. Keine von den Figuren, die die Ruhrstraße bevölkern hat je gelebt. Das Ländchen hat es nicht gegeben und die Waffenfabrik auch nicht. Und Wacke ist nicht Schwelm. Die Figuren und Ereignisse eines Romans sollten glaubwürdig sein. Nur darauf kommt es an.“ (Dietrich Rauschtenberger)
 
„Ruhrstraße 33“ ist dank Dietrich Rauschtenbergers präzisem Blick, dem gelungenen Zeitkolorit, seiner Wortgewalt und der psychologischen Tiefe ein großer Wurf, der starke, unvergeßliche Bilder im Kopf erzeugt und der einen Vergleich mit Hans Henning Claer erlaubt. Von uns wird es mit unserem Prädikat ausgezeichnet, dem Musenkuß. Es würde mich nicht wundern, wenn sich bald jemand die Filmrechte dafür sichert.
Am kommenden Sonntag, 13.5.2018, 20.00 Uhr, stellt Dietrich Rauschtenberger das Buch im Wuppertaler Jazzclub LOCH vor.
 
Dietrich Rauschtenberger – „Ruhrstraße 33“
Heimatroman.
© 2017 NordPark Verlag,
354 Seiten, Hardcover, Fadenheftung -  ISBN: 978-3-943940-39-8
20,- € 

Weitere Informationen und Leseprobe: http://www.nordpark-verlag.de/Rauschtenberger-Ruhrstrasse-33.html