Seh-Reise (19)

Neunzehnte Ausfahrt: Venedig

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (19)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
19. Ausfahrt: Venedig

In dieser Woche sah der Küchenplan der Augen weder Gemaltes noch Gemeißeltes vor. Es war bloß eine Fotografie – also keine Kunst?
Venedig, das übliche Szenario: Ein Kanal, überspannt von einem dieser elegant flachen Brückenbogen. Die Spiegelung des Wassers verdoppelt ihn wie auch die mehrstöckigen Häuser zu Seiten des Wasserwegs. Vorne der Steg einer Anlegestelle für die Gondeln, gehalten (wie die ganze Stadt) von Holzpfosten, in den Boden der Lagune gerammt. Darunter ein leeres Boot (oder, mit Spiegelung, deren zwei). Menschen sind nicht unterwegs. Doch, da hinten, auf der Brücke, sind ein paar Figürchen zu sehen. Sie geben dem Raum sein menschliches Maß.
Venedig eben. Das Übliche. Besonders vielleicht ist der Verzicht auf Farbe. Der saubere Kontrast von Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel, von Spiegelung und Schatten, mit der ganzen Palette an Grau dazwischen – eine wesentliche ästhetische Qualität dieser Aufnahme, aber nicht die entscheidende.
Es ist die Konzentration des Blicks, der hier festgehalten ist, der glückliche Standort, der im Einzelnen das Ganze sichtbar macht. Wie die Arbeit eines Grafikers, nein, eher eine Tuschzeichnung. Wobei die Fotografie hier den Vorteil ihrer Gattung ausspielt: Sie kann, dank ihrer Genauigkeit, sehr viel mehr Details auf dem „Blatt“ unterbringen als je ein Zeichner. (Allenfalls ein Stahlstich könnte da mithalten, aber auch er ist der mikroskopischen Qualität einer Fotolinse niemals auch nur annähernd gewachsen.)


Eine hervorragende Fotografie, finde ich, die auf einen Blick Venedig einfängt. Dennoch habe ich die Postkarte während dieser Woche eher symbolisch gesehen mit ihren Überschneidungen, Linienfluchten, dem ungeheuren Reichtum an immer neu zu entdeckenden Einzelheiten -  wie das Blatt eines Zeichners oder eine Grafik.
Dabei hatte ich in Venedig, solange ich noch fotografierte, selbst zahlreiche Aufnahmen gemacht, in Farbe und in Schwarz-Weiß, wobei ich das Fotografieren, das viel Zeit verschlang, niemals so ernst genommen habe wie meine handschriftlichen Notizen, die ich im Gehen durch Städte und Landschaften „aufnahm“ und hinterher in einem Café niederschrieb. Den Ehrgeiz dieses ungenannten Fotografen von Venedig hatte ich dabei durchaus auch. Doch ist es mir nie gelungen, auf die Sinnfrage (wozu und für wen tust du das?) eine beruhigende Antwort zu finden.
So kam es dann zu der schwarzen Nacht von Rom. Von einer Brücke schaute ich hinab in das Fließen des Tibers - und trennte mich mit einem Ruck von meiner gesamten Fotoausrüstung, die immerhin einiges Geld wert war. Seitdem ruht sie auf dem Grund dieses Flusses. In der Ewigen Stadt scheint sie mir gut aufgehoben.
Zugegeben: Ich hatte damals genügend Velletri im Blut, doch habe ich danach wirklich keine Sekunde diese gewaltsame Beendigung meiner Karriere als Fotograf bereut, bis heute nicht. Es war eine Befreiung gewesen. Erst als das Ding im Wasser verschwunden war, spürte ich, wie lange es mich schon belastet hatte. Fotografieren und Schreiben – das ging nicht zusammen. Ab jetzt gehörten meine Zeit und meine Aufmerksamkeit und mein Wunsch, das Erlebte festzuhalten, ungeteilt und allein meinem Notizbuch.
Und jetzt habe ich mich für eine Woche an dieser „vera fotografia“ (wie es hinten auf der Karte steht) herzlich gefreut, ohne jede Spur von Wehmut. Ich habe dem Panoramablick die ganzen Mühen des Fotografierens angesehen: Wie lange es gedauert hat, bis der richtige Platz gefunden, das beste Licht angebrochen war, bis keine Passanten mehr störend durch die Ansicht liefen, sondern nur die passenden. Geschenkt war da nichts. Das war harte Arbeit gewesen, Stunde um Stunde, über Tage vielleicht.
Nein! In der schwarzen Nacht über dem Tiber habe ich damals die richtige Entscheidung getroffen. Das Schauen des Schreibenden ist ein anderes als das des Fotografen, selbst wenn der die schönsten Bilder malt. Oder gerade dann.
 
Venedig, Panorama-Fotografie


Redaktion: Frank Becker