Der Fliegenfänger

Aus dem Zettelkasten

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Aus meinem Zettelkasten
 
Fliegenfänger, Der (aus dem Roman „Der Fliegenfänger“): Es war der 31. September, als Robert verrückt wurde. Er saß bei seinem Steuerberater, als ihn das Verrücktsein übermannte. Sein Steuerberater, Herr Bumm, war gerade dabei, ihm den Unterschied von Einkommenssteuer und Mehrwertsteuer zu erklären, als er, Robert, plötzlich neben sich stand. Er konnte sich nicht sehen, aber er spürte auf einmal ganz deutlich, daß noch jemand im Zimmer war. Robert erinnerte sich noch gut, daß er empört gewesen war, weil er immer gedacht hatte, daß er umsatzsteuerbefreit wäre. Er war sich sogar sicher, daß er immer umsatzsteuerbefreit gewesen war und diesbezüglich eine Bescheinigung des Regierungspräsidenten Detmold, einem ehemaligen Freund seiner Mutter, vorliegen hatte. Verrückt, oder? Er wußte noch, daß er an die Decke des Zimmers gestarrt hatte. Man mußte sagen kopfschüttelnd gestarrt hatte. Er erinnerte sich, daß er dort einen Fliegenfänger entdeckt hatte. Er hatte ganz vergessen, daß es diese Fliegenfänger einmal gegeben hatte, und als er ihn nun sah, war er erstaunt, daß Menschen gegenüber anderen Geschöpfen so grausam sein durften, ohne daß es irgendjemand für nötig gehalten hatte, deswegen auf die Barrikaden zu gehen. Was soll man denn von uns denken, wenn man woanders erfahren würde, wie wir es für sinnvoll halten mit anderen Geschöpfen, und seien sie noch so klein, umgehen zu müssen? Sicher, die kleine Heftzwecke an der Zimmerdecke rührte ihn. Er wußte, daß besagter Fliegenfänger immer mit Heftzwecke geliefert wurde. Die Heftzwecke war sehr wichtig. Er konnte sich noch erinnern, wie seltsam es gewesen war jene Heftzwecke mit dem grünen Pappzylinder an die Zimmerdecke zu drücken und wie sonderbar es sich dann angefühlt hatte diesen Fliegenfänger hervorzuzaubern, indem man den Pappzylinder nach unten zog. Er wußte noch, daß man sich schon darüber im Klaren war, nicht nur eine Hinrichtung vorzubereiten. Er schaute also auf diesen Fliegenfänger, diese klebrige Schlange, die im Zimmer seines Steuerberaters hing und sah einer Fliege (nannte man sie nicht sogar Stubenfliege?) hilflos beim Sterben zu. Arme Fliege. Arme, arme Fliege. Was machte sie überhaupt im Zimmer eines Steuerberaters? Gibt es nicht andere Orte, an denen eine Fliege besser aufgehoben wäre? Wäre es nicht viel sinnvoller, wenn eine Fliege sich im Zimmer eines Priesters befinden würde, der noch Anregungen brauchte, um über Schuld und Hoffnung zu schreiben. Auf jeden Fall fing Robert plötzlich an, seinem Steuerberater Kußhändchen zuzuwerfen. Er machte es sportlich, rhythmisch und ohne anzügliche Leidenschaft. Sicher, sein Steuerberater, Herr Bumm, war ein schöner Mann, aber Robert hatte keine Gefühle für ihn, er bewunderte ihn nur für sein Wissen und seinen Stand in der Welt. Er warf ihm also Kußhände zu und wäre auch noch einen Schritt weiter gegangen, indem er seinem Steuerberater unsittliche Anträge vorgetragen hätte, nicht um ihn zu verführen, geschweige denn in Verlegenheit zu stürzen, sondern nur, um diese schmutzigen Ausdrücke mal gesagt zu haben, um einen Ausgleich zu schaffen in diesem korrekten Umfeld, in dieser gepflegten Langeweile. Er dachte nur plötzlich an die Stubenfliege, die in diesem Augenblick nicht mehr um ihr Leben kämpfte. Wie verführerisch mußte der Lockstoff auf dem Leimstreifen gewesen sein, daß sich die Stubenfliege derart hingezogen fühlte? Man muß im Nachhinein sagen, daß Herr Bumm sich sehr korrekt verhalten hatte. Er stand einfach auf, nahm seinen Locher,  stellte ihn in seine Schreibtischschublade und schloß sie ab.
 
 
© Erwin Grosche
 
Das „Weltlexikon“, das sich aus Erwin Grosches Zettelkasten speist, wird im Oktober im Bonifatius Verlag erscheinen.