Seh-Reise (21)

Einundzwanzigste Ausfahrt:

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (21)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
21. Ausfahrt: Calixus-Katakomben, Rom

Achtlos scheint das Graffito auf den rauhen Putz geworfen, von flüchtiger Hand, in groben Umrißlinien. So ähnlich könnte es heute in einer S-Bahn-Unterführung zu sehen sein. Hier geht es offensichtlich nicht um Schönheit, Harmonie, um die Illusion von Schein. Darauf kommt es dem Maler dieser Opferszene, wenn man ihn überhaupt so nennen soll, sichtbar nicht an. Am deutlichsten wird das an der rechten der beiden Standfiguren, die ihre Arme in die Höhe hält. Nur vier Finger jeweils an den beiden weit geöffneten Händen, und jeder einzelne davon bloß ein Strich. Kinder malen so, allein auf das Wesentliche bedacht. Welche Gründe aber hatte der Maler dieses kleinen Wandfreskos für seine Flüchtigkeit?
Die Szene stammt aus einer Katakombe Roms, den in die Erde gegrabenen Gängen unterhalb der Stadt, in der die frühen Christen ihre Toten beerdigten und wo sie ihren damals noch verbotenen Gottesdienst feierten. Das Bild hier ist die malerische Ausgestaltung in einer engen und lichtlosen Gebetskammer. Oft waren sie auf mehreren Etagen ins Erdreich hineingetrieben. Schon wenn man allein in solch einer Kammer sich aufhält, befällt einen Raumangst. Und wenn sie gar gefüllt war mit mehreren Menschen?

Die zwei Stehenden sind Mann und Frau. Zwischen ihnen, auf einem antiken Dreifuß, ein Fisch. Ein mächtiges Tier, sein Rot und Grün und Braun
sind die kräftigsten Farben und ziehen den Blick des Betrachters in diese Mitte des Bildes: sein Zentrum. Ein Abendmahlopfer wird zelebriert, wie es auf meiner Postkarte steht, die ich in der Katakombe des Calixtus gekauft habe, vor der Stadt, an der alten Via Appia gelegen, aus dem zweiten und dritten Jahrhundert der neuen Zeitrechnung, die mit der Geburt des Jesus von Nazareth beginnt.


Bei näherem Betrachten, mit Hilfe der Lupe, erkenne ich: So „kunstlos“, wie es mir auf den ersten Blick schien (verführt auch von den vierfingrigen Händen), ist der Maler dieser Skizze durchaus nicht vorgegangen. Der Mann links dreht sich elegant in einem Kontrapost, wie er auf den antiken Statuen üblich war. Zierlich setzt der rechte Fuß, im geschnürten Schuh der Römer, auf den Boden auf, während der Oberkörper sich gegenläufig nach links bewegt: Die beiden Arme, nackt und kräftig, wenden sich dem Fisch entgegen, aus dem Schwerpunkt des eigenen Körpers heraus. Merkwürdig! Der Blick des Mannes folgt seinem Hinweisen auf das wesentliche nicht, das Symbol dieser neuen Religion. Als habe er sich noch nicht gelöst aus dem bisher Gewohnten. In dem schulterfreien Mantel, mit seiner Körperhaltung, bleibt er durch und durch eine Gestalt der römischen Welt. Ganz plan von vorn dagegen die rechte Figur, mit den langen Haaren als Frau zu identifizieren. Sie betet im Chiton, dem durchgehenden Kleid der Antike, im Gestus der frühen Christen, mit erhobenen Armen.
Ohne jede Räumlichkeit steht der Dreifuß da, auf dem der Fisch liegt. Während die beiden Betenden einen kleinen Schatten in den Raum werfen, beharrt das Sakrament auf der Wucht von Zweidimensionalität, mit markant ausgezogenen Umrißlinien. In meinem Reiseführer, der mich seit den sechziger Jahren nach Italien begleitet, finde ich den Hinweis, das griechische Wort ‚Ichthys‘ (Fisch) sei in dieser frühen Zeit von den verfolgten Gläubigen als Verschlüsselung benutzt worden für „Gott Jesus Christus“. Während der Maler bei den beiden menschlichen Figuren auf die geläufige Darstellungsweise der Antike zurückgreift (mit Kontrapost, Perspektive, Gewändern), bleibt das neue Symbol unberührt von den Formen der Vergangenheit: einfach („primitiv“) als ein Zeichen gegeben, nicht „verschönt“, vollkommen kunstlos.

Dieser Fisch: So mögen die Jäger der Steinzeit die Büffel an die Wände der Höhlen in Südfrankreich und Spanien gemalt haben: als magische Abbilder der Wirklichkeit, die diese Wirklichkeit günstig beeinflussen sollten. Der Mythos, verkörpert im unbegreifbaren Tier, steht am Anfang der Kunst. Damit ist der erste Schritt getan zu Fähigkeiten, die zum unterscheidenden Merkmal der Gattung Mensch geworden sind.
Die sogenannte „abendländische“ Kunst hat sich weit von diesen Anfängen entfernt, in erstaunlichste Kunstfertigkeiten hinein. Und bleibt doch, bis heute, diesem mythischen Kern des Anfangs verhaftet, wenn sie denn Kunst ist und nicht eitle Artisterei.
 
Abendmahlopfer, 3. Jh. N. Chr. Calixtus-Katakomben, Rom.
Eucharistischer Fisch, 2. Jh. N. Chr. Ebendort
 
 

Redaktion: Frank Becker