„An die Deutschen“

Hölderlins Scheltreden und ihre lange Vorgeschichte

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„An die Deutschen“

Hölderlins Scheltreden und ihre lange Vorgeschichte

Von Heinz Rölleke
 
Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843), einer der größten Lyriker der Weltliteratur, wurde erst durch Stefan George und dessen Kreis um das Jahr 1900 entdeckt und gewürdigt. Die Begeisterung des Lesepublikums, aber auch der Germanisten vom Fach, war sofort riesengroß und wuchs kontinuierlich bis in unsere Tage hinein. Der Mißbrauch einiger seiner Verse, die angeblich den patriotischen Heldentod feiern, während des Ersten Weltkrieg und in den zwölf Jahren der Naziherrschaft, konnte dem Enthusiasmus für die tiefsinnigen und formvollendeten Dichtungen auf die Dauer keinen Abbruch tun, und gerade nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Begeisterung zuweilen bis hin zu mystischen Überhöhungen.
 
Die Wissenschaft hat sozusagen jedes Wort und jeden Buchstaben um und umgedreht, so daß man meinen könnte, die grundlegenden Kommentierungen und Erläuterungen der zuweilen sehr sperrig und hermetisch wirkenden Verse seien seit einiger Zeit endgültig abgeschlossen. Daß dies nicht immer der Fall ist, sei an einem kleinen Beispiel gezeigt; man sieht, um mit Goethe zu sprechen, „wie viel zu tun noch übrig bleibt“.
 
Relativ früh berühmt und bis heute sehr bekannt ist Hölderlins „Scheltrede an die Deutschen“ im zweiten Band seines 1799 erschienenen Briefromans „Hyperion“: „So kam ich unter die Deutschen“. In einer scharfen Abrechnung mit der Beschränktheit, dem berechnenden Wesen und vielen anderen Untugenden, vor allem mit ihrer „gottverlaßnen Unnatur“. Man hat literarische Vorbilder nicht genau ausmachen können, doch ist die große Tradition dieses Themas in Satiren des späteren 15., des 16., 17. und späten 18. Jahrhunderts sozusagen ständig präsent (zum Beispiel bei Sebastian Brant, Johann Balthasar Schupp, Johann Michael Moscherosch oder Friedrich Leopold von Stolberg). Hölderlins Abrechnung mit den Deutschen seiner Zeit, von denen er sich mit Recht ständig mißverstanden und mißkannt fühlte, ist geradezu gnadenlos – und immer noch sehr lesenswert: Mancher Mitbürger wird einige seiner Züge in diesem unbarmherzigen Spiegel erkennen:
 
            „[...] es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt […] - wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach' und kümmert sich nicht viel ums Wetter! […] Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höheres sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt […] ich sprach für alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten.“
 
Anders steht es mit einem kleinen Gedicht Hölderlins aus dem Jahr 1798. In diesen zwei vierzeiligen Strophen richtet sich die Kritik des Dichters nicht gegen die Gottverlassenheit der Deutschen, sondern gegen ihre Tatenarmut. Das Gedicht spricht unaffektiert, erweist sich durch die Schlußstrophe als versöhnlich, gern bereit, sich widerlegen zu lassen und scheint sich - anders als in Hyperions Schelte - kein endgültiges Urteil anzumaßen.
 
       „An die Deutschen
 
       Spottet ja nicht des Kinds, wenn es mit Peitsch' und Sporn
       Auf dem Rosse von Holz mutig und groß sich dünkt,
       Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid
       Tatenarm und gedankenvoll.
 
       Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt,
       Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?
       O ihr Lieben, so nimmt mich,
       Daß ich büße die Lästerung.“
 
 
Soweit zu sehen ist, haben die bisherigen Kommentare zu diesen Zeilen lediglich auf eine Parallele bei Achim von Arnim, einem der wenigen, die Hölderlin schon früh überaus schätzten, in dessen Roman „Die Kronenwächter“ von 1817 hingewiesen: „Ich habe bisher vor Euch wie ein Panzerhemde erscheinen müssen, thatenlos und gedankenvoll.“ Eine Vorform des Bildes vom hölzernen Spielzeugroß hat man bislang übersehen. Es stammt vom genialen Sprachkünstler Johann Fischart (auch genannt Mentzer; 1546-1590):
 
       „Ernstliche Ermanung an die lieben Teutschen
 
        […]
       Ja jr [euch] gebürt für den Königsstab [statt des Königsstabs]
       Eyn Höltzin Roß, welchs sie nur hab,
       Vnd füre den [statt dem] Adler Kün
       Eyn bundte Atzel nun forthin.“
 
Als laudator temporis acti beschreibt Fischart den augenblicklichen Zustand in deutschen Landen: Früher trugen die Deutschen das Szepter („den Königsstab“), dessen sie nun nicht mehr würdig sind; stattdessen steht ihnen ein Spielzeugpferdchen zu, und als Wappenvogel taugt nicht mehr der König der Tiere, der kühne Adler, sondern die weidlich verspottete gescheckte Elster. Es geht für die Teutschen „forthin“ darum, nicht passiv die Gedanken auf „der Alten Wacker Thaten“ zu richten, sondern aktiv, tatkräftig „Auffrecht, Treu, Redlich, Eynig vnd Standhafft“ zu sein. Besonders die Überschrift „an die lieben Teutschen“ verbindet direkt mit Hölderlins Gedichttitel „An die Deutschen“; das originelle Bild vom „Höltzin Roß“ („auf dem Rosse von Holz“) findet sich in stupender Übereinstimmung in einem Abstand von 220 Jahren wieder. Ob Hölderlin Fischarts Verse direkt kannte oder durch eine sekundäre Überlieferung angeregt wurde, steht dahin.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018