Seh-Reise (24)

Vierundzwanzigste Ausfahrt: Alexej von Jawlensky

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (24)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
24. Ausfahrt: Alexej von Jawlensky

Bei diesem Bild, der „Großen Meditation V“ des Alexej von Jawlensky, stößt mein ästhetisches Sehen an seine Grenze. Ohne das, was ich über die Umstände seiner Entstehung weiß, bliebe es mir stumm.
Denn was sehe ich auf dem kleinen Blatt, gerade einmal Din A 4-Format?
Schwarze Balken, vertikal, und quer durch die Bildmitte eine Art Achse in die Höhe gezogen, leicht nach rechts geneigt. Diese Achse teilt zwei nahezu gleich große Felder ab, Blau und Rot. Beide Farben monochrom, nur am Bildrand jeweils hellt sich der pastose Auftrag leicht auf. Von der unteren Vertikallinie geht ein Bündel schwarzer Pinselstriche ab.
Zwei nicht besonders delikate Primärfarben in einem Gerüst aus Schwarz. Mehr ist nicht zu sehen. Ein menschliches Gesicht ahne ich eher, als daß ich es erkenne. Ein Strichmännchen-Gesicht. Ein Oberlippenbart könnte das sein, so wuchtig wie auf Abbildungen Nietzsches aus seinen letzten Jahren. Eine ästhetische Absicht bleibt mir verschlossen im bloßen Schauen.
Und doch erinnere ich mich an meine Begeisterung damals, als ich die Jawlensky-Ausstellung gesehen hatte, in München wohl, die Erschütterung, die mich bei seinen späten Bildern ergriffen hatte und bis heute nicht losläßt.


Alexej von Jawlensky, Große Meditation V N 20

Das kleine Bild stammt aus dem Jahr 1936 und zählt zu den letzten Bildern, die der Maler mit seinen kranken Händen zuwege gebracht hat. Seit zehn Jahren bereits litt er an fortschreitender Arthritis. Längst konnte er den Pinsel nicht mehr mit seiner Rechten halten und führen, er brauchte seine Linke dazu. Er nahm, so erfuhr ich seinerzeit, das Malgerät in beide Fäuste und hieb damit die Farben aufs Papier. So waren ihm nur noch Balken möglich, hoch und quer. Auch das Rot und Blau und der vermeintliche Bart bestehen aus diesen groben Hieben, von unten nach oben gezogen. Die Strichmännchen-Gesichter waren das einzige, was ihm noch möglich war, und das auch nur in seinen besten Tagen, wenn die körperlichen Qualen nachließen.
Und kehrte damit ein in die Tradition seiner Heimat, die Ikonenmalerei Rußlands. Diese geistliche Übung der orthodoxen Kirche entmaterialisierte Jawlensky weiter und nannte die Ikonen seiner Krankheit „Meditationen“ – religiöse Chiffren über das Menschliche hinaus: Lebensbilder, Leidensbilder. Aus ihnen schaffte er, solange sein Körper es hergab, hielt stand an der Grenze seiner Existenz und öffnete sich damit Räume, die jedem Gesunden verwehrt sind und bleiben. Friedrich Nietzsche hatte sie auf seine Weise in den Weimarer Jahren erfahren. Aus seinem Dunkel kamen hin und wieder grelle Schreie, die er auf Zettel kritzelte. Sie entzogen sich dem Verstehen, wie sich Jawlenskys arthritische Meditationen dem bloßen Blick entziehen. Heftig gemaltes Murmeln aus einem Bereich jenseits von Kunst. Ehe das Schweigen über sie hinweg geht.
 
Alexej von Jawlensky, Große Meditation V N 20, 1936. Privatbesitz Schweiz


Redaktion: Frank Becker