Suche nach der wirklichen Zahl der Todesopfer der Pogromnacht vor 80 Jahren

Die Landeszentrale für Politische Bildung in NRW ermittelt

von Andreas Rehnolt

Foto © Jacek Jędrzejczak
Erstmals wird landesweit die wirkliche Zahl der Todesopfer
der Pogromnacht vor 80 Jahren ermittelt
 
Die Zahl der Mordopfer ist nach Angaben der Landeszentrale
für Politische Bildung in NRW deutlich größer, als bislang angenommen
 
Von Andreas Rehnolt
 
Düsseldorf - Nordrhein-Westfalen ist bundesweit das erste Land, in dem die Gesamtzahl der Todesopfer der Pogromnacht der Nationalsozialisten vom 9. auf den 10. November 1938 ermittelt wird. Zusammen mit der Mahn- und Gedenkstätte in der Landeshauptstadt Düsseldorf läßt die NRW-Landeszentrale für politische Bildung nach Angaben vom Mittwoch derzeit in den rund 400 Städten und Gemeinden sowie den 31 Kreisen feststellen, wie viele Menschen in der Nacht umgebracht wurden, an den dabei erlittenen Verletzungen verstorben oder aber in den Suizid getrieben wurden.
 
Bislang haben sich erst rund 50 Prozent der angeschriebenen Stadt-, Gemeinde- oder Kreisarchive zurückgemeldet, erklärte der Leiter der federführenden Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Bastian Fleermann am Mittwoch. „Fest steht aber schon jetzt, die Zahl der Mordopfer in der Pogromnacht auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes NRW ist deutlich größer, als bislang angenommen“, betonte die Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung, Maria Springenberg-Eich. 
Alleine aus den bisher gemeldeten Städten und Gemeinden sowie den Unterlagen aus drei 1938 bestandenen Konzentrationslagern auf dem Gebiet des heutigen NRW geht laut Fleermann hervor, daß es 120 Tote gab. Die Zahl der damals reichsweit ermordeten jüdischen Menschen wird bislang auf etwa 400 geschätzt. „Diese Zahl ist viel zu untertrieben“, sagte Fleermann.
Alleine in Düsseldorf habe es 17 Mordopfer gegeben. „Das Nichtwissen über die Gesamtzahl der Mordopfer ist 80 Jahre nach der Pogromnacht 1938 inakzeptabel“, betonte der Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf. Er erwarte, daß in den nächsten Wochen und Monaten auch die übrigen Archive der Städte und Gemeinden, die um Mithilfe gebeten wurden, endlich reagieren und Zahlen, Namen und Geschichte der Mordopfer aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 mitteilen.
 
Gerd Genger von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf hat inzwischen etwa 130 Bücher und Broschüren, die auf lokaler Ebene über die von den Nazis als „Reichskristallnacht“ Pogromnacht ausgewertet und zudem umfangreiche Internet-Recherche dazu betrieben. Ein Resultat: Es gab diese Gewalt- und Mordexzesse sowohl in Städten, als auch in kleinen Ortschaften. „Reichsweit ist die Gemeinde Hilden ein Ausreißer. Bei nur 3.000 Einwohnern gab es in der Pogromnacht hier sechs Tote“, so Genger.
Der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Michael Szentei-Heise begrüßte das landesweite Projekt am Mittwoch. Er sei „sehr dankbar darüber, daß jetzt die wirkliche Zahl der Mordopfer aus der Pogromnacht bekannt wird“. Das mache es dann auch möglich, den vielen bislang unbekannt gebliebenen Toten künftig „wenigstens in der Erinnerung an sie gerecht zu werden“, so der Geschäftsführer der drittgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland.
Szentei-Heise kündigte an, er wolle auch die jüdischen Gemeinden in den anderen Bundesländern über das Projekt informieren. Er hoffe, daß vielleicht auch bundesweit das Projekt wahrgenommen werde und dann die Gesamtzahl der Mordopfer dieser Nacht für das damalige Deutsche Reich wirklich exakt ermittelt werden könne. Möglicherweise waren das „insgesamt 1.000 oder mehr Tote“, so Szentei-Heise.
 
„Alle Opfer haben Namen, oft gibt es auch öffentliche Dokumente. Ein Auffinden von namentlich unbekannten Leichen gibt es nicht“, so Gerd Genger.
Bastian Fleermann wies darauf hin, daß die Pogromnacht der Nationalsozialisten vor 80 Jahren auch „das erstmalige kollektive Eindringen in die Privatsphäre“ gewesen sei. Ermittelt werden sollen laut Fleermann „alle, die in dieser Nacht ermordet worden sind. Auch die, die an den Folgen der erlittenen Verletzungen oder an Schocks oder Herzinfarkten gestorben sind und auch die, die in den Verzweiflungs-Suizid getrieben wurden.“
In Lünen in Westfalen etwa wurden jüdische Menschen zum Durchschwimmen des Flusses Lippe gezwungen und ertranken dabei in den eiskalten Fluten. In Heiligenhaus bei Düsseldorf fand man die zusammengebundenen Leichen eines jüdischen Ehepaars in einem Fluß. In Siegen nahm sich eine jüdische Mutter mit ihrer Tochter das Leben, nachdem die männlichen Familienmitglieder in der Pogromnacht ins KZ Sachsenhausen gebracht wurden. Als der Vater nach zwei Wochen wieder freigelassen wurde und davon erfuhr, nahm auch er sich das Leben.
 
Hildegard Jakob von der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte betonte am Mittwoch, man suche „zwar nach der Zahl der Mordopfer“. Im Mittelpunkt des Projektes stünden aber „die betroffenen Menschen mit ihren Familiengeschichten“. Für Hans Wupper-Tewes von der Landeszentrale für politische Bildung NRW haben die bisherigen Ergebnisse des andauernden Projekts auch die erschreckende Erkenntnis, „daß sehr viele Menschen mitgemacht haben bei der Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger. Und das, obwohl es keinen expliziten Mordbefehl gegeben hat.“
Mit Gottesdiensten, Ausstellungen, Vortragsveranstaltungen und Kranzniederlegungen erinnern Kirchen, jüdische Gemeinden, Stadtverwaltungen und Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen rund um die Nacht vom 9. auf den 10. November an die Pogromnacht der Nationalsozialisten. Die Nazis nannten damals die Nacht judenfeindlicher Hetze und Übergriffe in ihrer Propagandasprache verhöhnend „Reichskristallnacht“. Sie schändeten und zerstörten über 1.400 Synagogen und jüdische Gebetssäle.