„Es streut der weichende Winter noch Reif, Eis und Schnee“

Zitate und Anspielungen in Fausts Osterspaziergang

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker

„Es streut der weichende Winter
noch Reif, Eis und Schnee“
 
Zitate und Anspielungen in Fausts Osterspaziergang
 
Von Heinz Rölleke
 
Man sollte nicht in allen Fällen von Plagiaten sprechen, wenn sich bei neueren Literaten sprachliche Wendungen oder ganze Motive aus vorgängigen Schriften  finden, die sie anscheinend (oder nur scheinbar) daraus übernommen und ihrem neuen eigenen Werk anverwandelt haben, zumal solche Übereinstimmungen durchaus nicht immer auf direktem Wege zustande gekommen sein müssen.
 
Das gilt auch für eine der ersten Szenen in Goethes „Faust“. Der sogenannte Osterspaziergang (Verse 831 bis 1177) mit Fausts berühmt gewordenem Monolog „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ als Herzstück ist „Vor dem Tor“ (Bühnenanweisung nach v. 807) lokalisiert. „Spaziergänger aller Art ziehen hinaus“ heißt es am Morgen des Ostertags: Man kann nach der Verabschiedung des Winters wieder in der freien Natur flanieren. Unter den Spaziergängern sind auch die „Bürgermädchen“ (nach v. 831). Die Szene scheint ganz von Goethe imaginiert, ist aber in Einzelheiten doch wohl schon lange in der deutschen Literatur vorgebildet. Im Jahr 1522  erschien das Geschichtenbuch des Franziskaners Johannes Pauli „Schimpff und Ernst“. Hier findet sich in einem Schwank (von schimpff das LVII: „Es was ein mal ein edelman“) eine überraschende Parallele. Ein Geistlicher und sein Lehrmeister haben sich „an dem ostermontag“ nach dem Mittagsmahl ins Freie verfügt: Sie „gingen für die stat hinauß, da die burgers kind vnd die edlen lauffen“. Goethes Datierung des Spaziergangs Fausts und Wagners auf das Fest der „Auferstehung des Herrn“ (v. 921), die Lokalisierung „Vor dem Tor“ der Stadt (vgl. v. 917) sowie vor allem die ausdrückliche Erwähnung der „Bürgermädchen“ stimmen verblüffend zu der über 250 Jahre zuvor durch den Dichter Pauli entworfenen Szene, wo sich am Ostermontag die Bürgerkinder vor der Stadt lustwandelnd vergnügen.
 
In derselben Szene findet sich eine deutliche Anleihe bei einem seinerzeit äußerst populären Gedicht, das Ewald Christian von Kleist (1715 bis 1759 - entfernt mit dem heute berühmteren Heinrich von Kleist verwandt) 1749 erstmals unter dem Titel „Der Frühling“ veröffentlicht hatte. Das Gedicht machte ihn so berühmt, daß er zuweilen fortan selbst ohne Nennung seines Namens als „Verfasser des Frühlings“ firmierte.


Mathieu Molitor pinx.

 
Frühlingsbeginn ist auch das Thema bei Fausts Osterspaziergang. Bezeichnenderweise aus dem Anfang des nicht weniger als 459 Verse umfassenden Gedicht Kleists dürfte Goethe einige Wendungen direkt oder nach der Erinnerung übernommen haben, wie eine kleine Synopse zeigen kann.
 
Goethe                                                              Kleist
 
Der alte Winter, in seiner Schwäche, […]        Zwar streut der weichende Winter
Zog sich in rauhe Berge zurück.                       Noch oft […]
Von dorther sendet er, fliehend, nur                  Reif, Eis und Schauer von Schnee
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
(v. 906-909)                                                      (v. 47-49)
 
Aber die Sonne […]                                          Doch endlich siegte der […] Frühling.
Alles will sie mit Farben beleben;                     Die Luft ward sanfter; es deckt' ein   Doch an Blumen fehlt's im Revier,                                                bunter Teppich die Felder [...]
Sie nimmt geputzte Menschen dafür […]        laßt tausend farbigte Scenen
                                                                         die schwarzen Bilder verfärben!
(v. 911-915)                                                      (v. 53-63)
 
 
Kehre dich um, von diesen Höhen                   Und ihr, ihr Bilder des Frühlings,
Nach der Stadt zurückzusehen                        […] flieht jetzt den
                                                                          athemberaubenden Aushauch                                                                                                                                                                        Von güldenen Kerkern der Städte.
(v. 916 f.)                                                           (v. 68 f.)
 
Denn sie sind selbst auferstanden,                  Ihr, deren zweifelhaft Leben gleich
Aus [...] dumpfen Gemächern                          trüben Tagen des Winters
Aus der […] Nacht                                            Ohn Licht und Freude verfließt, die
Sind sie alle ans Licht gebracht                        ihr in Höhlen des Elends                                                                                                                
                                                                          Die finstern Stunden verseufzt,
                                                                          betrachtet die Jugend des Jahres!
(v. 922-928)                                                       (v. 59-61)
 

Das selten in diesem Sinn gebrauchte Wort „Revier“ begegnet bei Kleist (v. 222: „Reviere […] Triften und Anger“) und Goethe (v. 914: „Blumen […] im Revier“); und wie Kleist sich die „blühenden Schönen“ (v. 68) aus der Stadt sich im Frühlingsrevier ergehen und erfreuen läßt, so plaziert Goethe die städtischen Bürgermädchen in die Szene „Vor dem Tor“ (nach v. 231).
 
Betrachtet man die hier vorgestellten Belege im Zusammenhang, so findet man einige Übereinstimmungen der Goetheschen Motive und Formulierungen mit älterer Literatur. Dabei muß nicht ein direkter Zusammenhang behauptet werden – die Ähnlichkeiten aber sind unübersehbar und allemal einer Überlegung wert.
 
Wie unübersehbar indes tatsächlich die Abhängigkeit eines eindrucksvollen Wortes am Ende des Osterspaziergangs ist, läßt sich zweifelsfrei nachweisen.
„Vor mir den Tag, und hinter mir die Nacht“ (v. 1087), so imaginiert sich der Magier Faust eine Zauberformel, die es ihm ermöglichen könnte, der untergehenden Sonne nachzueilen. Es handelt sich hier eindeutig um das so gut wie wörtliche Zitat eines in der europäischen Volksliteratur weitverbreiteten magischen Spruchs, den etwa Goethes Weimaraner Zeitgenosse Johann Karl August Musäus 1782 in seinem Märchen „Die Nymphe des Brunnens“ bietet: Mathilde schlägt sich mithilfe eines zauberkräftigen Bisamapfels und des Spruches „Hinter mir Nacht, vor mir Tag,/ Daß mich niemand sehen mag“ durch das „feindliche Kriegsvolk“. 1801 setzt Johann Heinrich Voss in seinen „Idyllen“ die Formel ebenfalls im Zusammenhang mit dem Märchenmotiv von den Sieben-Meilen-Stiefeln: „Ja, schreit' in magischen Stiefeln, / Vor dir Tag und hinter dir Nacht.“
 
Daß die mehr oder weniger deutlichen Parallelen zu Pauli und Kleist in keiner nach Dutzenden zählenden „Faust“-Kommentare genannt sind, ist vielleicht verständlich; daß aber die Identität der Faustischen Formel etwa mit einer Formulierung bei Musäus, Voss und vielen anderen in der 200-jährigen Kommentierungsgeschichte des Goetheschen Meisterwerks nicht erkannt und vermerkt wurde, stellt der Germanistik kein gutes Zeugnis aus.  
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018