Notizen
...über den Tod
Mein Gott, wenn ich jetzt daran denke, daß wir alle noch sterben müssen. Wann sollen wir das denn auch noch machen? Und dann müssen wir uns ja noch alle gegenseitig bei unseren Beerdigungen besuchen. „Bis uns der Streuselkuchen scheidet“, sage ich immer. Da kann man sich doch gleich einen Zehnerpack Beileidskarten von Amazon holen, die gibt es dann günstiger und die haben von den anderen Trauernden immerhin vier von fünf möglichen Sternen bekommen. Obwohl bei manchen „die Spielmusik nicht funktionierte“, wenn sie die Karte geöffnet hatten. „Wish you were here“ von Pink Floyd. Eine tolle Sache, da müssen sie nur noch ankreuzen wie sie sich fühlen. Da gibt es dann ein Kästchen, da können sie ein Kreuz machen bei „traurig“, „sehr traurig“ oder „erschüttert“. Oben noch bei Punkt, Punkt, Punkt den Namen des Toten eintragen und ab geht die Post. Also, wenn ich daran denke, daß wir alle noch sterben sollen. Das wir also jetzt so langsam dran sind, dann bin ich doch ratlos. Wir, die wir noch vor kurzem herumgesprungen sind und den schönen Frauen hinterhergeschaut haben, als würden wir mit jeder einzelnen von ihnen einen neuen Anfang wagen. Was soll denn dieser abrupte Abschied? Dieser unausgegorene Schlußstrich? Vor allen Dingen werde ich ja jetzt auch mal dabei sein. Ich denke, ich werde da mitmachen müssen. Schon aus Solidarität. Da weiß man auch nicht, ob man bei den ersten oder bei den letzten sein will. Bei den letzten, da kommt ja keiner mehr zu der eigenen Beerdigung. Dann kann man auch ne Seebestattung machen, da ist dann wenigstens ein Krake zur Stelle, der kann uns siebenmal Beileid aussprechen... Wir haben ja noch vor kurzem Witze gemacht über das Abnippeln. Abnippeln haben wir das genannt. Und wenn einer von uns abgenippelt ist, der in unserem Alter war, dann haben wir gesagt: „Zu jung. Er war zu jung zum abnippeln.“ Aber Leute, der war so alt wie wir. Tod, schäm` dich. Laß mich wenigstens noch austrinken und meinen Reißverschluß schließen. Wir sind doch noch zu jung. Wir sind doch auf ewig zu jung. Laß mich noch das Buch zu Ende lesen und die nasse Wäsche in den Trockner stopfen. Ich habe noch so viel zu tun. Das wir mal in echt sterben müssen, wir Kinder, wir Fröhlichen und Traurigen, irgendwie habe ich das nie geglaubt.
Er trug selbst beim Schlafen seine Lesebrille. Er hatte geträumt, daß Gevatter Tod ihn besuchen würde, um ihn den Vertrag über sein sündhaftes Leben vorzulegen. Er wollte auf diesen Augenblick vorbereitet sein. Er konnte sich gut vorstellen, daß das Begreifen des Kleingedruckten über seinen Aufenthalt im Himmel oder in der Hölle entscheiden konnte.
© Erwin Grosche
Redaktion: Frank Becker
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