Kühle Faszination

„Ralph Gibson. Nude“

von Robert Sernatini

© 2018 TASCHEN GmbH
Kühle Faszination
 
Ralph Gibson. Nude
 
Schönheit liege stets im Auge des Betrachters, heißt es, womit vielen Sichtweisen Raum gegeben werden kann. Ästhetik hingegen verweigert sich im Wesentlichen der Interpretation.

Der Fotograf Ralph Gibson (*1939), dessen Bildband „Nude“ ich Ihnen heute hier vorstellen darf, sieht das selber (ich erlaube mir, ihn zum besseren Verständnis mit seinem kurzen Nachwort zum Buch im Auszug zu zitieren) so: „Ein Fotograf meinte einmal, es gebe unendlich viele schöne Frauen. Vielleicht habe ich das selbst gesagt. Ja, stimmt, ich erinnere mich genau daran und bis heute bin ich davon überzeugt. Wenn man beim Betrachten eines Buches schon vor dem Umblättern einer Seite weiß, daß auf der nächsten wieder das Bild einer nackten Frau folgt - wie kann ein solches Buch spannend genug gestaltet werden? Man muß einen Weg finden, die Fußangeln von Variationen eines Motivs in der Kunst zu vermeiden. Ich kann nicht sagen, ob dies gelungen ist. Diese Entscheidung bleibt dem Betrachter überlassen, und er oder sie wird seine oder ihre Meinung sicher bei jedem erneuten Durchblättern des Buches ändern. Das Motiv jedoch, das älteste in der Kunst, wird Künstler aller Art immer wieder beschäftigen. (…) Ich liebe es, Frauen zu fotografieren - aus allegorischen, erzählerischen oder formalen Gründen - und halte die Form des weiblichen Körpers für absolut und perfekt. Auch der männliche Körper ist sehr schön, aber ich habe selbst einen und weiß zu viel darüber, als daß ich Lust hätte, ein Buch auch zu diesem Thema zu machen.“
 
Da bin ich, wie man so schön sagt, „ganz bei ihm“ – denn gibt es etwas schöneres als den wohlgestalteten Körper einer Frau? Wir Männer müssen uns da bescheiden zurückziehen, dürfen aber mit Schillerscher Verehrung auf die Schönheit und den Liebreiz der Frau schauen – und wie im Falle der Fotografien Ralph Gibsons – die Bilder genießen. Das für den Titel des Buches ausgesuchte Motiv hätte kaum besser gewählt werden können, um Gibsons Intention zu verdeutlichen.


© Ralph Gibson

Überwiegend schwarz/weiße, aber auch farbige Bilder widmen sich Konturen, Strukturen, Schattenwürfen, Details, zeigen Inszenierungen von Körperlandschaften in der Natur und im Raum, spielen mit Unschärfe und Intimität und zeigen eine große Bandbreite zwischen Versuch und Perfektion. Sorgfältig eingestreut lösen Portraits und Abbildungen von Skulpturen die überwältigende Flut der Nacktheit ab. Die Akte Gibsons reduzieren aber seine Modelle nicht etwa auf Brüste, Po, Beine und Geschlecht, im Gegenteil lassen sie die sanfte Macht des ästhetischen weiblichen Körpers über die Gedanken des Betrachters erkennen. Es ist die kühle Faszination seiner Bilder, die überzeugt.


© Ralph Gibson

Als im Format verkleinerte und aktualisierte Neuauflage von TASCHENs vergriffener Collector’s Edition präsentiert Gibsons „Nude“ eine umfassende Auswahl eleganter Akt-, Teilakt und Detail-Aufnahmen des weiblichen Körpers, Studio-Aufnahmen, sorgfältige Inszenierungen und Kompositionen, teils aber auch Momente, Augenblicke, bewußt zufällig wirkende Bilder von meist zarter, gelegentlich doch auch drängender Erotik, die mit Blick aufs Genre auch großen Vorbildern wie Man Ray oder Edward Weston deutlich und mit Respekt Reverenz erweisen. Aber auch die klassische Malerei findet ihre Zitate, denken wir nur an den zarten Teil-Akt adverso dem Innentitel, der „Gabrielle d'Estrées und eine ihrer Schwestern“ eines unbekannter Malers am Ende des 16. Jahrhunderts zitiert.
Der Maler Eric Fischl führt mit einem ausführlichen Interview mit Gibson in den opulenten Bildband ein.


© Ralph Gibson

Der Fotograf
Ralph Gibson begann während seines Dienstes in der US-Marine in den 1950er Jahren zu fotografieren und assistierte später Dorothea Lange und Robert Frank, bevor er in New York sein eigenes Atelier eröffnete. Gibson erhielt Stipendien des NEA und der Guggenheim-Stiftung und wurde 2002 von der französischen Regierung zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt.
Der Autor
Eric Fischl ist ein international bekannter figurativer Maler und Bildhauer. Er absolvierte seine Ausbildung in Arizona und Kalifornien und lebt mit seiner Frau, der Malerin April Gornik, in der Region um New York.


© Ralph Gibson

„Ralph Gibson. Nude“
Hrsg. von Eric Fischl
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch
© 2018 TASCHEN, Hardcover/Halbleinen, Fadenheftung 23,7 x 31,6 cm, 352 Seiten, 2,7 kg - ISBN 978-3-8365-6888-3
40,- €
Weitere Informationen: www.taschen.com

Redaktion: Frank Becker