Jerusalem (3)

Osterspaziergang im Wald von Jerusalem

von Anja Liedtke

Drüsige Distel - Foto © Anja Liedtke
Osterspaziergang
im Wald von Jerusalem
 
Eines Tages schaukelt ein alter Mercedes die Schotterpiste entlang. Vom Rückspiegel baumelt eine wegen der Schlaglöcher heftig schwankende Gebetskette. Aus dem Wagen steigen drei beleibte Moslems, die Salbei für den schwarzen Tee pflücken und sich freuen, daß ich freundlich grüße. Das einstmals traditionelle Pflücken der wilden Kräuter ist heute verboten.
Bewaffnet sind auf den Wanderwegen die Schlußhüter der Schüler- und Scoutgruppen. Sie tragen keine Uzi wie Soldaten, sondern Gewehre mit Holzschäften.

Wenn das Kindergeschrei der Pfadfinder vorbei ist, steige ich den Berghang hinauf in verbrannten Wald. Er wird von Christen aufgeforstet. Ich ramme eine Fußspitze in die heiße trockene Erde, als ich am Stamm einer Pinie zwei Hörner finde. Unter ihnen hat der Schädelknochen dieselbe Farbe angenommen wie der helle Staub. Brandspuren sind zu sehen, die Ziege kann nicht nur von Rauch und Feuer umgekommen sein, sie muß bis auf die Knochen verbrannt sein. Ich stelle den Schädel auf die Wasserpipeline, die das Hadassah-Krankenhaus versorgt, da ich den Totenkopf nicht mitnehmen will. Ein anderer Wanderer wird ihn haben wollen.
Weiter geht der Weg durch wilde Kornfelder - oder sind es die Überreste handgesäter Felder früherer arabischer Einwohner? Der Hafer ist durchsetzt von meterhohen blauen Disteln, palästinensischen Butterblumen, knospenden roten Nelken, sternförmigen Gräsern, riesigen Pusteblumen und verwunschenen Gewächsen. Vor meinen Fußsohlen fliehen grüne Heuschrecken.



Heuschrecke - Foto © Anja Liedtke

Dort oben liegt ein uraltes arabisches Dorf in Ruinen. Zu sehen sind Zisternen, teils ausgetrocknet, teils von Kindern zum Baden benutzt. Der Berg steckte einst voll Quellen, heute sind die Rinnen leer. Ich krieche in gebückter Haltung in Höhlen hinein, durch deren Decken Pinien ihre Wurzeln strecken. Andere Höhlendecken erscheinen geschwärzt von Lagerfeuern. An ihnen wärmten sich erst Hirten und Schäfer, später Guerillakämpfer. Mühlsteine liegen herum, Ölpressen lassen sich ausmachen, wenn man weiß, wonach man sucht. Einzelne Gebäude deuten an, wie dünn das Land besiedelt gewesen war. Die winzigen Dörfer, die nur je eine Sippe beherbergten, lagen weit genug auseinander, um dazwischen Platz für Hafer, Weiden, Oliven- und Obstterrassen zu bieten, und um nicht zu viel Wasser zu verbrauchen. Es stimmt also nicht ganz, daß die Araber, die hier lebten, nichts aufgebaut hätten, nur waren das keine modernen Städte, keine maschinenbetriebene Landwirtschaft mit Tröpfchenbewässerung. Stattdessen das, was wir heute vielleicht ökologische Bewirtschaftung nennen und ein Dasein in und mit der Natur. Das Leben in den Hügeln von Jerusalem war ein stilles, mühevolles und der Umwelt angepaßtes.


Foto © Anja Liedtke


Foto © Anja Liedtke

Ich frage mich, wo sie ihre Toten begraben haben. Brachten sie sie bis zum Friedhof am Löwentor an der Stadtmauer von Jerusalem gegenüber dem Ölberg? Oder begruben dort nur die Bürger, nicht die Bauern?
 
Ich suche den Hang nach oben und unten ab. In beide Richtungen fällt mein Blick auf Siedlungen. En Tamar ist umringt von Ställen, aus ihnen dringt Hühnerlärm. Im Zentrum stehen ockerfarbene Häuser mit roten Ziegeldächern. Auf neuen, schwarzen, breiten Straßen können Kinder prächtig spielen. Die einzigen Autos parken unter Palmen.
Es ist Schabbat, zudem auch noch Pessach. Aus einer unscheinbaren Synagoge wehen zwei weiße Männer und leuchten auf ihrem beschwingten Weg wie wandernde Lilien im wallenden Grün des Grases und des hellen Klees. Die jungen Männer kehren zu ihren Zelten zurück, wo die Frauen warten. Viele wandern jetzt eine Pessachwoche lang durch die frische Natur über den Israel-Trail. Der Weg durchzieht das Land von den Golan-Höhen bis nach Eilat am Roten Meer.
Chag Same‘ach, grüßt ein Kind in weißem Kleidchen und geht vorbei. Chag Same‘ach, wünsche ich den Eltern, die den Pessachspaziergang sichtlich genießen, einen fröhlichen Feiertag. Osterstimmung durchflutet mich, ich hebe den Blick zu dem Himmel, von dem man sagt, wer ihn nicht gesehen hat, der weiß nicht, was Blau heißt.


Foto © Anja Liedtke

Ich tauche unter tiefhängende Äste. Dornen spielen den Hang hinauf Bürgerwehr für eine neue Siedlung. Meine Trekkingsandalen kämpfen sie nieder. Die geringfügigen Blessuren gestalten meine Wanderwerkzeuge zu Kinderbeinen.
Blauweiße Girlanden zieren Rohbauten. Junge moderne Paare beschauen sie, planen, was daraus werden könnte, überlegen, ob sie kaufen wollen. Ihre Makler fahren mit dicken Geländewagen vor. In der Siedlung befindet sich ein Restaurant, ein Laden, eine Bäckerei und ein Bauer. Ich entdecke verbotene Hühnerhaltung. Sind die Hühner passend groß für die Käfige gezüchtet worden oder die Käfige in derselben Größe wie die Hühner gebaut worden? Die weißen Tiere mit den rosa Hauben und Füßen sind übereinander und hintereinander gestapelt, sodaß einer dem anderen die Schwanzfedern ausreißen kann, ohne daß sich das Vorderhuhn herumzudrehen vermag. Ich höre auf, das Vieh zu fotografieren, als ein Junge vorbeikommt, der seinen Hund Gassi führt. Ich denke an meine Turteltaubenmutter. Sie schaut unter sich und sieht hautüberzogene, schwarze Augen, nasse gelbe Federkiele auf eingefallener grauer Haut, einen unförmigen Schnabel, der nicht fordert, nicht piept, nicht pickt, sondern animiert werden muß aus dem Kropf zu fressen.
 
Erst als ich vor einem zwei Meter hohen Metallzaun stehe, erkenne ich, daß ich gefangen bin. Die Bewohner der Siedlung schützen sich vor Anschlägen, indem sie sich selbst einsperren. Ich wandere am Zaun entlang, bis ich eine Tür finde. Sie läßt sich öffnen, ich atme auf, als ich sie von außen schließe. Warum ziehen Menschen in selbstgebaute Gefängnisse unter der Gefahr, daß sich der Hass früherer Besitzer gegen ihr Dasein richtet? Diejenigen, die ich hier sah, sind junge Leute, die ein preiswertes Grundstück suchen, auf dem sie ein eigenes Haus bauen. Sie können die Preise in den teuren Städten nicht zahlen. Andere fliehen mit den Kindern die Stadt und träumen von einem Leben auf dem Land. Es gibt wenige Mietwohnungen in Israel. Üblich ist es, daß Eltern und Schwiegereltern den Kindern Wohnungen kaufen, wenn diese heiraten. Wer das nicht zu bezahlen vermag, nimmt einen Kredit auf. Wer sich auch den nicht leisten kann, sucht eine billigere Möglichkeit.
 

© Anja Liedtke

Lesen Sie morgen hier den vierten und letzten Teil dieses farbigen Reiseberichts.