Der alte Mann 14

(...und die Aussicht)

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der alte Mann und die Aussicht
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren.
Wie so oft wunderte er sich über Bänke, die dort standen, wo es nichts zu sehen gab. Wer setzt sich schon dort hin, und schaut sich dann nichts an? Wer in Paderborn das größte Computermuseum der Welt entdecken will, hat gute Chancen es zu sehen. Es ist groß und dick und leuchtet im Dunkeln. Was ist aber mit den kleinen Wundern? Wer ist zuständig für Bänke, die zum Blick auf Baum und Strauch einladen wollen? Auch das Anschauen muß gefördert werden. Wie blickt man auf ein Drei-Hasen-Fenster oder die Augenquelle?
Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Wer Bänke aufstellt, sollte sich darüber im Klaren sein, daß sie genutzt werden“, dachte er. „Sicher, man durfte von einer Aussicht nicht zu viel verlangen, gerade im Herbst, aber trotzdem sollte der Blick nach außen und innen möglich sein.“
Manche Gegenden haben gar keine Aussicht, da kann man sich eigentlich das Aufstellen der Bänke ersparen. Elsen zum Beispiel, ist kein Ort wo man wohnt, weil es dort so viel zu sehen gibt. Elsen hat andere Vorzüge.
Der alte Mann stand auf. Er hatte auf einer Bank gesessen, die direkt vor einer Altglassammelstelle aufgebaut war. Wo war die Aussicht geblieben? War sie vor lauter Trubel und Geschäftigkeit verschwunden und mußte der Mülltrennung weichen? Er kannte Aussichten, die waren nun zum Parkplatz geworden. Alles Schöne war verschwunden und nicht nur die altehrwürdige Sommerlinde wunderte sich über das Ausbleiben der Flaneure. Die Sommerlinde auf dem kleinen Domplatz denkt doch, wir mögen sie nicht mehr und hätten sie vergessen.
„Schatz“, scheuchen manche Männer ihre Frauen von der Bank, „stell dich vor mich hin. Du sollst meine Aussicht sein.“
Wer setzt sich schon gerne auf eine Bank und schaut dann auf eine Bank, auf der andere sitzen und ihn anschauen? Das konnte öde sein, gerade wenn man sich unbeobachtet glaubte. Wenn man sich unbeobachtet glaubt, macht man doch selten Sachen, die andere erfreuen. Das Nasebohren ist in einem solchen Augenblick entstanden. Jemand fühlte sich unbeobachtet und entdeckte seine Nase. Das schaut sich niemand gerne an. Eine schöne Aussicht muß uns Einblicke gewähren, die uns an den Sinn erinnern, den wir hier auf Erden verfolgen sollen.
Manchmal saß man auf einer Bank und sah auf einen Wohnzimmerschrank, der irgendwo in der Natur abgelegt worden war. Hatte man nicht auch so einen Wohnzimmerschrank? Wo war der eigentlich geblieben? Sollte nicht eine Aussicht etwas Erhabenes haben und zum Nachdenken anregen? Der alte Mann war so in Gedanken, daß er beinahe gegen einen Briefkasten gelaufen wäre.
„Wenn ich irgendwo sitzen soll, wo es keine Aussicht gibt, kann ich auch gleich zu Hause bleiben“, murmelte der alte Mann.
Er setzte sich wieder auf eine Bank und sah vor sich Windräder, die sich drehten. Konnte es sein, daß diese Bank schon so lange dort stand, daß die Aussicht, die man früher von dort genießen konnte, inzwischen verschwunden war? War es vielleicht so, daß etwas, was damals noch als Aussicht galt, heute keinen mehr vom Hocker riss?
Einmal saß er auf einer Bank, da war er so erschöpft, daß ihm die Aussicht ganz egal war. Er erinnerte sich noch, daß man direkt in ein Tal schauen konnte, in dem Kühe auf einer Weide grasten, trotzdem hatte er in dem Augenblick keinen Blick dafür.
„Ihr blonden Kühe seid nur etwas Besonderes, wenn ich es will“, hatte er gerufen. Er sah plötzlich, daß die Kuhschwänze zu kurz waren, um die Fliegen vom Kopf wedeln zu können. War das ein Schöpfungsfehler, ein Pfusch? Konnte man an einem Kuhschwanz eine Fliegenklatsche befestigen?
Das würde helfen. Einmal saßen auf einer Bank junge Leute, die schauten sich auf einem Smartphone Sonnenuntergänge an, weil sie früher nach Hause mußten. Es gab Bänke, um die machte sogar sein Hund einen Bogen. Warum lag dort, wo man sich hinsetzen wollte, um die Aussicht zu genießen, oft so viel Unrat, der die Aussicht störte? Es ist oft so, daß das Durcheinander nicht den stört, der es verursacht hat. Der alte Mann mußte lachen. Er war froh, daß sein Hund vor ihm herlief. Dem konnte man immer hinterherschauen. Er war die schönste Aussicht der Welt.
 
 
© 2017 Erwin Grosche