Wissenschaft als Geschichte

Die fehlende Aufklärung einer technikverwöhnten Gesellschaft und eine Aufgabe für die Zukunft

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wissenschaft als Geschichte
 
Die fehlende Aufklärung einer technikverwöhnten Gesellschaft
und eine Aufgabe für die Zukunft
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Wissenschaft als Beruf.“ So lautet der Titel einer berühmt gewordenen Vorlesung, die der vielfach verehrte sozialwissenschaftliche Klassiker Max Weber 1917 gehalten hat und die zwei Jahre später in einem Band mit dem Titel „Geistige Arbeit als Beruf“ in gedruckter Form erschienen ist. In dem Text findet sich die später von Webers zahlreichen Nachdenkern übernommene und gerne wiederholte Formulierung von der „Entzauberung der Welt“. Mit ihr wollte Weber den ihm erkennbaren Tatbestand auf den Begriff bringen, dass man im frühen 20. Jahrhundert meinte, „alle Dinge – im Prinzip durch Berechnen beherrschen“ zu können, dass es „also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe“, wie Weber sagte. Der moderne Mensch – so der Gelehrte – muss „nicht mehr, wie der Wilde“ „zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten.“ Dies leisten inzwischen vielmehr die technischen Mittel der Neuzeit und die Möglichkeit der Berechnung, die von der Wissenschaft zur Verfügung gestellt wird, wobei Weber den sozialen Wandel in diese technische Richtung als „intellektualistische Rationalisierung“ kennzeichnet oder allgemeiner das Wirken der Wissenschaft mit den Worten „Intellektualisierung als solche“ charakterisiert, die wohl ohne Leidenschaft abgeht und eher Langeweile verbreitet.   
 
„Wissenschaft als Beruf“ – mit dieser Formel erfasste der Sozialwissenschaftler vor rund 100 Jahren zum ersten Mal die gesellschaftlichen Folgen der im Laufe des 19. Jahrhunderts massiv einsetzenden Bewegung namens Industrialisierung, die es Chemikern, Physikern, Pharmazeuten und anderen Forschern tatsächlich erlaubte, ihre Tätigkeit nicht mehr bloß in privaten Zirkeln oder elitären Vereinigungen wie der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte oder der Royal Society in London auszuführen, sondern ihr Können und Bemühen auch als Angestellte in Unternehmen wie der Bayer AG oder den Farbwerken Hoechst auszuführen und damit den Lebensunterhalt für ihre Familie zu verdienen. Wissenschaft wurde von einer höheren Berufung zum niederen Beruf und begann, zunehmend ihr akademisches Umfeld zu verlassen und in den Alltag einzugreifen, etwa indem Medikamente immer weniger den Händen von Kräuterweiblein entstammten, sondern zunehmend eine industrielle Zubereitung erfuhren und zum Beispiel in Flaschen abgefüllt als Tropfen über den Markt und auf ärztlichen Rat zum Patienten kamen.   
 
So sehr zutrifft, was Weber schreibt, für den Begriff der Entzauberung kommt ihm keine Originalität zu. Der Philosoph Rémi Brague nennt in seinem Buch „Weisheit des Westens“ Webers Ansicht vielmehr eine „reichlich abgedroschene Auffassung“, da der Gedanke und das Wort bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zirkulierten und so etwas wie die Neutralisierung des Kosmos oder die Verneinung eines Gottes meinten. In diesem Zusammenhang könnte man zu der Ansicht kommen, dass die Idee der Entzauberung als Folge der Aufklärung eingetreten ist, und genau so kann man es in dem Buch „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lesen. Dort findet sich ganz vorne der Satz, „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt“, wobei gleich noch gezeigt wird, dass kaum etwas weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte als diese These.   
 
Zuerst zur Wissenschaft selbst, die im Laufe ihrer weiteren Entwicklung keineswegs dabei stehen blieb, Menschen Berufschancen zu geben. Sie übernahm vielmehr anfänglich noch unbemerkt, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg aber immer umfassender die Gestaltung der Geschichte, was fast logisch erscheint. Denn wenn seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist, dass Geschichte allgemein von Menschen vorangetrieben wird, dann sollte diese Dynamik speziell von denjenigen Personen ausgehen, die die Wissenschaft zu ihrem Beruf gemacht haben und all die technischen Möglichkeiten in die Welt setzen, deren praktische Umsetzungen die Existenzbedingungen verbessern, die Konsumenten fröhlich stimmen und ihren Weg in die Gegenwart ausrichten.   
 
Ein Blick in die Zeitungen zeigt, wie unübersehbar diese Qualität der Wissenschaft inzwischen geworden ist. An dem Tag (11.02.18), an dem dieser Text entsteht, berichtet die FAZ zum Beispiel in ihrem Wirtschaftsteil über Lithium-Ionen-Akkus und den Kampf um die dazugehörigen Batterierohstoffe, die für die Elektromobilität benötigt werden. Auf der Seite der Finanzen werden in einer Spalte Kohlendioxid-Emissionen von Elektrogeräten verhandelt, die rund 300 kWh verbrauchen, während es daneben um die Blockchain geht, an der ein deutscher IT-Entwickler mitarbeitet, um mit digitalen Währungen (Bitcoins) zu handeln. Unter der Rubrik „Die Vermögensfrage“ geht es dann um Fragen der Art, ob „Rendite ohne Kernkraft und Gentechnik“ noch möglich ist und ob man „mit Nachhaltigkeit an den Börsen gut verdienen“ kann. Und so wird fast jeder in der Lage sein, die Aufzählung mit alltäglicher Wissenschaft fortzusetzen, wenn er schon einmal von Google, Facebook und Apple gehört hat und nicht nur an deren Aktien, sondern auch an deren Produkten Interesse zeigt und etwa sein iPhone in der Tasche bei sich trägt, auf dem er zwischendurch E-Mails oder seinen Gesundheitszustand abfragt und twittert.   
 
Wohlgemerkt – es geht in dieser Berichterstattung nicht um Wissenschaft und Technik, sondern um den damit vollgestopften Alltag, den Wirtschaft und Politik für ihre Kunden und Wähler gestalten. Und dabei zeigt sich, dass die öffentlichen Macher keinen Tag lang mehr ohne die Wissenschaft und ihre ubiquitären technischen Folgen auskommen, was auf der einen Seite zwar niemanden mehr verwundert, was aber auf der anderen Seite doch ziemlich verstören kann. Denn eines lässt sich sicher sagen: Von den Mitgliedern im Deutschen Bundestag oder im Europaparlament versteht bestenfalls eine verschwindende Minderheit, wie eine Blockchain oder eine Batterie operiert, und von den Transistoren oder Halbleitern in den Handys soll lieber ganz geschwiegen werden. Und diese parlamentarischen Vertreter des Volkes müssen sich zudem um Atomkraft, Automatisierung, Digitalisierung, Genomprojekte, Gigabytes, Nanotechnologie, erneuerbare Energien und andere Folgen der Wissenschaft kümmern, von denen sie eher noch weniger Ahnung haben. Wenn sie ihre politische Aufgabe ernst nehmen, werden sie rasch merken, dass sich die wenigsten Dinge „im Prinzip durch Berechnen beherrschen“ lassen, wie Weber irrtümlich noch lässig verkündet hatte, und dass die beängstigenden „geheimnisvollen unberechenbaren Mächte“ keineswegs verschwunden sind, wie der Sozialwissenschaftler meinte. Sie haben nur einen neuen Platz gefunden – und zwar nicht mehr außen in der Welt irgendwo über den Dingen, sondern tief im Inneren der wundersamen Maschinen, von denen das alltägliche Leben immer stärker abhängt und bestimmt wird. Die sich gerne aufgeklärt gebende Gesellschaft vertraut immer weniger dem menschlichen Verstand und dafür umso mehr einer maschinellen Software, selbst wenn sie die bestenfalls im Halbdunkel erfassen und kaum noch verstehen kann. 
 
Zwar nehmen viele Menschen die schicken Angebote einer technikverwöhnten Gesellschaft wahr, und sie kaufen auch die nötigen Apparate. Sie behandeln die vielen bald unersetzlichen Geräte dann aber wie einen Mohr, der nach Knopfdruck seine Schuldigkeit getan hat und im Jackett oder in der Handtasche verschwindet. Hier sollte sich die drängende Frage stellen, wie die umfassend mit Schulbildung versorgten und von den Medien ausführlich informierten Menschen im 21. Jahrhundert mit ihrer sie eigentlich bedrückenden wissenschaftlichen Ahnungslosigkeit umgehen. Man erwartet, dass sich dazu Sozialpsychologen zu Wort melden, aber solange sie nichts sagen, werden an dieser Stelle zwei andere Antworten versucht. Zum ersten gehört das technisch-wissenschaftliche Wissen im Land der Dichter und Denker immer noch nicht zur Bildung, wie sich spielend leicht mit Zitaten von Sozialforschern zeigen lässt, die nach Weber kamen und etwa wie Jürgen Habermas der Meinung sind, dass eine wissenschaftlich erforschte Natur keinen Gesprächsstoff für gebildete Menschen wie ihn und seine Kollegen abgibt. Und zum zweiten war es der große Mann aus Heidelberg selbst, der 1917 dem Publikum auf merkwürdige Weise die Absolution erteilte und ihnen ihre Ahnungslosigkeit selbst bei den einfachsten Beispielen verzieh, wie nach ein paar allgemeinen Sätzen gleich zu lesen ist, die nötig sind, um das Ungeheuerliche an Webers Ansicht zu verdeutlichen.     
 
Es geht seit Immanuel Kant um Aufklärung, und die hat bekanntlich mit Unmündigkeit zu tun und stellt die mutige philosophische Aufforderung an die Menschen dar, sich durch eigene Denkanstrengungen aus diesem elenden Zustand zu befreien und sich auf keinen Fall der Leitung eines anderen Verstandes zu unterwerfen. Genau dazu forderte Max Weber seine Mitmenschen aber auf, als er über „Wissenschaft als Beruf“ redete, auch wenn das nicht sofort ins Auge springt. An einer Stelle seines Vortrags fragt Weber seine Zuhörer scheinbar harmlos, wer von ihnen „eine größere Kenntnis der Lebensbedingungen hat, unter denen er existiert, als ein Indianer oder ein Hottentotte?“ Und der gelehrte Redner gibt anschließend selbst die Antwort, indem er seine Überzeugung äußert, dass kaum jemand über dieses Wissen verfügt, denn „wer von uns Straßenbahn fährt, hat – wenn er nicht Fachphysiker ist – keine Ahnung, wie sie das macht, sich in Bewegung zu setzen“ – wobei die Frage erlaubt sein wird, wer heutzutage versteht, wie etwa ein ICE mit seinen vielen Waggons angetrieben wird und wo die nötige Energie herkommt.  
 
Webers Unkenntnis der Straßenbahn stellt zwar kein besonderes Problem dar, wohl aber das, was er anschließend unternimmt, um seine Zuhörer zu beruhigen. Er mildert sein Beklagen ihrer Ahnungslosigkeit nämlich durch den Trost ab, dass ein braver Bürger „nichts davon zu wissen“ braucht. Er kann ja erstens einen Experten fragen, und zweitens genügt es, wenn jemand sein Verhalten an den Bewegungen der Straßenbahn ausrichten kann. Das klingt zwar freundlich und scheinbar harmlos, doch mit dieser Idee läutet der Sozialwissenschaftler das Ende der Aufklärung ein, was seine Nachdenker bis heute entweder nicht bemerken oder was ihnen sogar zu gefallen scheint. Denn was Weber zur Elektrischen sagt, heißt doch, dass Menschen ihr eigenes Denken einstellen können und weder gebrauchen noch anwenden sollen. Er möchte, dass sie wieder tun, was Kant ihnen austreiben wollte, nämlich sich der Leitung eines anderen Verstandes zu unterwerfen, ohne zu merken, dass er dabei einem großen Irrtum über die Wissenschaft aufsitzt.   
 
Bereits 1905 hatte Albert Einstein bei seinem Bemühen um das Licht bemerkt, dass eine wissenschaftliche Erklärung der Welt das Geheimnis der erforschten Phänomene nicht aufhebt, sondern es im Gegenteil nur vertieft. Natürlich kann man 1917 einen Physiker oder Ingenieur fragen, wie eine Straßenbahn funktioniert, und ebenso natürlich wird er von elektrischen Strömen und ihrer wandelbaren Energie erzählen, die sich beide sogar berechnen lassen. Er weiß darüber hinaus aber auch, dass er weder weiß, was da durch die Kabel strömt, noch sagen kann, was diese Größen letztlich sind, die Elektrizität und die Energie. Der Erfinder und Elektroingenieur Nikola Tesla hat am Ende seines Lebens geschrieben, dass er achtzig Jahre über die Frage nachgedacht hat, was Elektrizität ist, ohne eine Antwort zu finden. Und Einstein hat von 1905 an fünf Jahrzehnte lang über die Frage gegrübelt, was Licht ist, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen – wobei er kurz vor seinem Tod anmerkte, dass heute „jeder Lump“ meine, hier Bescheid zu wissen.  

Mit anderen Worten: Von einer Entzauberung der Welt durch eine aufklärungsbereite Wissenschaft und ihre Experten kann überhaupt keine Rede sein, stattdessen befördern deren Vorschläge und Überlegungen nur das Gegenteil, nämlich ihre Verzauberung. Die Wissenschaft romantisiert die Welt sogar, indem sie zum Beispiel dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen verleiht, wie man zeigen kann, wobei Einsteins Überzeugung gefallen wird, dass es das Gefühl für das Geheimnisvolle ist, das zu dem Staunen der Menschen führt, aus denen ihre Kreativität entspringen kann. Wer diese Weisheit eines großen Forschers auf Webers Rede anwendet, wird seinen Augen nicht mehr trauen, wenn er feststellt, dass der Sozialwissenschaftler den Menschen das Staunen verbietet und ihre Augen vor den technischen Wundern der Welt verbindet. Wer aber nicht mehr staunen kann, wessen Auge erloschen ist, der ist Einstein zufolge „sozusagen tot“ und auf keinen Fall mehr zum kreativen Denken fähig.   
 
Einsteins physikalische Zeitgenossen waren natürlich nicht tot, sondern höchst lebendig, und so konnten sie Wege finden, die Energie von Atomkernen freizusetzen. Als der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker im Jahre 1980 in einem Aufsatz „Rechenschaft über die eigene Rolle“ abgibt, die er dabei als junger Wissenschaftler gespielt hat, packte er seine moralische Einsicht in dem Satz zusammen, „Die Wissenschaft ist für ihre Folgen verantwortlich.“   
 
Bevor jetzt zu laut applaudiert wird und viele Menschen froh sind, dass sie damit keine Verantwortung mehr für die Wissenschaft tragen, sollten sie überlegen, was die erwähnten Folgen eigentlich sind. Hier wird die Ansicht vertreten, dass damit die menschliche Geschichte gemeint ist, und für die sind bekanntlich alle verantwortlich, wie die Philosophie spätestens seit den Tagen der Romantik verkündet. Menschen bringen ihre Geschichte durch Wissenschaft hervor, sie betreiben Wissenschaft als Geschichte, wie jeder jeden Tag in den Medien erkunden und in seiner Hand spüren kann, in der sein Smartphone klingelt. Und damit stellt sich der Gesellschaft eine gigantische Aufgabe, nämlich Wissenschaft so zu vermitteln, dass Menschen sie als diese historische Kraft begreifen und so verstehen, dass die Gegenwart, die sie erleben, vor allem eine durch Wissenschaft und Technik geprägte Zeit ist, für sie selbst verantwortlich sind. Es stimmt einfach, was der französische Philosoph Michel Serres einmal geschrieben hat: „Weder die Wechselfälle der politischen oder militärischen Verhältnisse noch die Ökonomie können – für sich genommen – hinreichend erklären, wie sich unsere heutigen Lebensweisen durchgesetzt haben“. Dies kann nur, wer sich nicht nur nebenbei auf die von Menschen gemachte Geschichte der Naturwissenschaften und ihrer Techniken einlässt und das Werden der aktuellen Zivilgesellschaft und ihrer erlebten Wirklichkeit mit Hilfe ihrer historischen Dimension erfasst.  
 
Dies geschieht viel zu wenig, und so steckt das Verständnis für Wissenschaft wie ein schwarzes Loch in der Mitte der Gesellschaft, und diese Metapher ist so wörtlich gemeint, wie sie klingt. Denn zu dem so bezeichneten Endzustand von Materie gehört ein Ereignishorizont, dem man sich bestenfalls nähern und den man nicht überschreiten kann, da an ihm die Zeit stillsteht wie in mancher Amtsstube. Erst dahinter spürt man die Sogwirkung der geballten und implodierten Materiemenge, was zu schwarzen Löchern führen kann. Wer über sie redet, steht außerhalb dieses Ereignishorizonts. Und was die Wissenschaft angeht, so steht das Publikum ebenfalls noch außerhalb der eben genannten Grenze. Es spürt die Anziehungskraft der Wissenschaft nicht. Noch nicht. Aber alles führt zu ihr hin, wie Tag für Tag unübersehbarer wird. Zum Glück haben Menschen sich noch nie durch Grenzen aufhalten lassen. Im Gegenteil! Sie bilden die biologische Spezies, deren Mitglieder erst Grenzen erkennen und dann überwinden oder zumindest überwinden wollen. Dieser Schritt lohnt vor allem, wenn es um die Zukunft geht. Den Mut, ihn zu unternehmen, haben die Europäer seit vielen hundert Jahren erbracht und beibehalten und dabei eine Gegenwart geschaffen, in der Wissenschaft und Technik den Menschen die große Macht verleihen, mit der sie ihre Welt auf direkte Weise zu beeinflussen und gestalten in der Lage sind, und zwar heute mehr denn je.   
 
Es ist merkwürdig: Die moderne Wissenschaft ist zwar wirkungsmächtiger als in den 1960er Jahren geworden, aber damals zeigte sich mehr Mut zu großen Zukunftsprojekten. In dieser Zeit des Aufbruchs zum Mond konnte eine Denkrichtung namens Futurologie große Aufmerksamkeit auf sich lenken, deren Vordenker und Betreiber genau zu wissen vorgaben, wie „Die Welt im Jahr 2000“ aussehen würde. Dies versprachen viele Bücher mit solchen Titeln, über deren Inhalt 2018 besser der Mantel des Schweigens gebreitet wird. Die emsigen Futurologen der 1960er Jahre wollten die Geschichte hinter sich lassen und nur nach vorne blicken, um den neuen Menschen zu schaffen, wie unüberhörbar verkündet wurde. Dies klang zwar mutig und wirkte verwegen, führte deshalb aber trotzdem nicht zu dem Ziel, wie sich unter anderem mit einer Besonderheit der Aufklärung verständlich machen lässt. Deren Grundprinzip kann man nämlich so formulieren, dass Menschen erst vernünftige Fragen über die Welt stellen und dann mit ihrem eigenen Verstand vernünftige Antworten darauf geben. Und wenn diese bekannt sind, kann man die Zukunft so gestalten, wie man will, und das heißt, man handelt so, dass die Menschen letztlich Glück empfinden und ein zufriedenstellendes Leben führen können. Das war das Programm der Aufklärung. Ihren Betreibern ist nicht in den Sinn gekommen, was die Romantiker nach ihnen gesehen und gespürt haben und was die Wissenschaft mit dem 20. Jahrhundert erfahren musste, dass sich nämlich vernünftige Antworten auf vernünftig gestellte Fragen in die Quere kommen und zu Widersprüchen führen können, wobei Einstein diese Erfahrung als erster machte, als er merkte, dass Licht sowohl Welle als auch Teilchen sein kann.    
 
Natürlich können und müssen Menschen versuchen, die Zukunft mit Hilfe der Wissenschaft zu gestalten, aber die Zukunft hängt an der Herkunft, was der Menschlichkeit eine Chance gibt, wie der Philosoph Odo Marquard angemerkt hat. Es geht ja nicht um eine abstrakte Zeit, sondern um konkrete Menschen, die in ihr leben und bei aller Fortschrittlichkeit Rücksicht verdienen. In den Worten des Philosophen, „Menschlichkeit ohne Modernität ist lahm; Modernität ohne Menschlichkeit ist kalt: Modernität braucht Menschlichkeit, denn Zukunft braucht Herkunft.“ Mit anderen Worten: Wissenschaft als Geschichte zu verstehen und zu schätzen, das ist das Ziel, und der Weg dorthin sollte zu finden sein.