Verstörend

Gabriel Tallent – „Mein Ein und Alles“

von Frank Becker

Verstörend
 
Gabriel Tallents Debüt-Roman über die junge Julie Alveston, die Turtle genannt wird, hat wie man hört Amerikas Leserschaft überwältigt und gespalten. Das halbwüchsige Mädchen wächst in einer abgeschiedenen Hütte im Wald bei ihrem seelisch gestörten, brutalen Vater Martin auf, der sie auf das apokalyptische Ende der Zivilisation einschwört und zur Überlebenskämpferin drillt. Sie lernt, mit Waffen umzugehen, sich aus der Natur zu ernähren und sich mißtrauisch von anderen Menschen fernzuhalten. In der vom Vater perfide inszenierten Isolation ist Turtle dessen Einflüssen, seinen gewalttätigen Wutausbrüchen bis schließlich zum sexuellen Mißbrauch hilflos ausgeliefert. Sie gehört ihm, der ihr schwört, daß sie sein „Ein und Alles“ sei und daß er sie nie freigeben wird.
Auf tagelangen Streifzügen in der Natur sucht sie Zuflucht vor dem besitzergreifenden Wahn ihres manischen Vaters. Als sie dabei Ihre Mitschüler Jacob und Brett näher kennenlernt und wahre Freundschaft erfährt, öffnet sich langsam ihre enge Welt.
 
Über weite Passagen möchte man das Buch erschreckt und auch angewidert weglegen, als Leser nicht weiter an der Brutalität des Vaters teilnehmen. Doch Tallents Sprache und Stil faszinieren, und man will dann doch wissen, wie sich Turtle vielleicht aus der fatalen Umklammerung lösen kann. Als Martin nach dem Tod des eigenen Vaters für ein paar Wochen verschwindet und Turtle allein läßt, vertieft sie die offene, ehrliche Freundschaft zu Jacob, Brett und einigen anderen, wird bereit zu Veränderungen.
Beim Auftauchen der offensichtlich entführten kleinen Cayenne in der Handlung, die Martin bei der Rückkehr von seinem Trip mitbringt, fällt einem sofort Scott Bradfields brillanter Roman „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ ein, der vor fünf Jahren ähnliches Aufsehen erregt hat. Das Element der Entwurzelung spielt in der US-Literatur traditionell eine Rolle.
Cayenne und auch ihr offensichtlicher Mißbrauch durch Martin aber sind es auch, die für das schließliche Aufbäumen der geschundenen Turtle den entscheidenden Anstoß geben. Der Showdown nimmt dem Leser schier den Atem. Es sollte mich nicht wundern, wenn sich schon bald Produzenten um die Filmrechte bemühen, um daraus einen billigen Kino-Reißer zu machen. Das allerdings ginge an Gabriel Tallents Intention (der sich am Ende ein bißchen süßes Pathos nicht verkneifen kann) weit vorbei.
 
„Mein Ein und Alles“ ist ein zutiefst verstörendes, unter die Haut gehend böses, schrecklich brutales Buch, das ein flackerndes Licht auf Teile der amerikanischen Gesellschaft wirft, ein Bild, welches den Autor bei seinem furiosen Debüt umgetrieben, bis aufs Mark gequält zu haben scheint. Und doch ist es bei allem Schrecken drängend lebensbejahend und Hoffnung gebend, wenn auch deutlich wird, daß Turtle das Erlebte, Durchlittene niemals wird verdrängen können. Wie die Redwood-Wurzeln im sorgsam angelegten Beet wird sich die Erinnerung an das Erlittene, die körperlichen und seelischen Qualen immer wieder zu ihrem Bewußtsein durchwühlen. Sie wird mit Hilfe von Jacob und Brett und nicht zuletzt ihrer einfühlsamen Lehrerin Anne daran arbeiten.
 
„Mein Ein und Alles“ erscheint am 24. September bei Penguin auf Deutsch, der Autor kommt zum Erscheinen nach Deutschland, um seinen Roman vorzustellen:
 
Mo. 24. Sept. | Heidelberg | DAI Deutsch-Amerikanisches Institut, 20 Uhr, Moderation: Margarete v. Schwarzkopf, dt. Stimme: N.N.
Di. 25. Sept. | Berlin | Geistesblüten, 19 Uhr, Moderation: Denis Scheck, dt. Stimme: N.N., Veranstalter: Geistesblüten am Walter-Benjamin-Platz 2
Mi. 26. Sept. | Hamburg | Literaturhaus, 19.30 Uhr, Moderation: Denis Scheck, dt. Stimme: Anna Thalbach
Do. 27. Sept. | Hannover | Pelikan TintenTurm, 19.30 Uhr, Moderation: N.N., dt. Stimme: Anna Thalbach, Veranstalter: Buchhandlung Leuenhagen & Paris
 
Gabriel Tallent – „Mein Ein und Alles“
Roman. Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner
Orginaltitel »My Absolute Darling«
© 2018 Penguin Books / Ramdomhouse, 480 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag – ISBN: 978-3-328-60028-2
Hörbuch erscheint zeitgleich bei Random House Audio | Lesung: Anna Thalbach
24,- € [D] / 24,70 € [A] / 33,90 sFr