Seh-Reise (35)

Fünfunddreißigste Ausfahrt: Der Liebeszauber

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (35)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
35. Ausfahrt: Der Liebeszauber

Die Kunstkarte „Liebeszauber“ habe ich von einer meinen Reisen in die „Deutsche Demokratische Republik“ mitgebracht, aus dem „Museum der bildenden Künste“ Leipzig. Das kräftige Orange der Schrift hinten auf der Karte war eine der Eigentümlichkeiten der „DDR“, daran wurde sie für den Westler sofort kenntlich. Der Verlag „Bild und Heimat“ für Kunstkarten war in Reichenbach zuhause, im Vogtland. Der Preis betrug „DDR 0.20 M“, wie es in orangerotem Kleindruck heißt.
Der Verlag ist anders als die „Deutsche Demokratische Republik“ samt ihrer Währung glücklicherweise nicht vom Erdboden verschwunden, sondern existiert unter dem alten Namen erfolgreich weiter.
 
Und die Kunst, die Ewige, die kein Alter kennt?
Dieser „Liebeszauber“ eines „niederländischen Meisters aus dem 15.Jahrhundert“ scheint heute doch weit entrückt. Es fordert mir schon einige Pietät und Geduld ab, bei dieser Inszenierung aus dem Geist der späten, überreifen Gotik nicht zu lachen. Erotik in der Guten Stube, überhäuft wie ein Antiquitätenladen. Und jede Kostbarkeit hat ihre Bedeutung. Ohne Spezialist zu sein, läßt sich davon nur noch das wenigste begreifen.
Selbst der nackte Körper einer jungen Frau, frontal mitten ins Bild gesetzt: Wenigstens er sollte sich noch von selbst verstehen. Doch das Schönheitsideal des gotischen Menschen prallt auf das unsere, das durch Tausende von Bildern in unsere Sinne gestanzt ist (wohl auch in die Seele). Die überlängten Proportionen dieses Leibs und der Beine, die in den Schnabelschuhen auf die Spitze getrieben ist, die dominante Bauchpartie, sichtbar für die Schwangerschaft angelegt – selbst schiere Körperlichkeit unterliegt der Mode.
Versonnen steht sie da, die milchblasse Blonde, gesenkten Blicks - schämt sie sich ihrer Nacktheit? Denn es ist eine ungeheure Kühnheit im ausgehenden Mittelalter, sich entblößt zu zeigen, ganz – die Morgenröte der Renaissance ist noch nicht angebrochen, unter deren südlicher Sonne Nacktheit erlaubt sein wird. Die Symbolik für ihre geheimen Wünsche ist deutlich genug aufgetragen, wenn die gotische Nackte mit einer Schmuckkette spielt, aus der herzförmigen (!) Tasche aus rotem Brokat. Aber alles ist mehrfach verpackt und eingehüllt. Daß, was die junge Frau in ihrer Nacktheit wirklich will, kann der Maler dieses Bildes noch nicht selbst zeigen. Er braucht die anspielungsreichen Dinge, die für die Menschen sprechen, was sie sich nicht zu sagen trauen.


Auch der Jüngling, der hinten in der Tür des schmalen Kabinetts steht, verrät uns nicht, was er vom Rücken und dem Po der jungen Frau hält, die da splitternackt vor ihm steht. Er könnte sich auch bloß in der Türe geirrt haben. Sich vorzustellen, wie er ins Zimmer tritt, neben ihr steht und sich auszieht, in gieriger Ungeduld? Nein. So sieht der nicht aus. Allein der Titel „Liebeszauber“ zwingt uns auf die Fährte – nicht das, was unsere Augen sehen. Es muß sich doch um ein verabredetes tete à tete zwischen den beiden handeln, die ein Schäferstündchen miteinander feiern wollen. War es die Wärterin der jungen Dame oder ihre alte Amme vielleicht, die das heimliche Rendezvous organisiert hat, damit die beiden Liebenden vor den Nachstellungen der Gesellschaft ungestört bleiben können? Auf den weißen Girlanden, die im Zimmer herum schweben, mögen die Liebeszaubersprüche aufgeschrieben sein, magische Sprüche aus den frühen Tagen von Märchen und Mythe.
Der aristokratische Mensch, wie er sich einst in einer geschlossenen engen Gesellschaft organisiert hat, ist weit von uns entfernt. Hunderte von Jahren, zahlreiche Generationen trennen uns voneinander. Das Band ist gerissen. Das komplizierte Regelwerk, nach dem unsere Vorfahren lebten, verstehen wir nicht mehr. Die weißen Girlanden bleiben leer für uns. Doch ganz ist der Zauber nicht gewichen, ein Stück weit wirkt er immer noch. Wir sehen es mit Rührung, wie nobel, wie verspielt, wie poetisch unsere Ur-Ur-Ur-Ahnen sich verhielten, bevor es zur Sache ging. So also sah es aus, das Ideal menschlicher Liebe in der Elite vor mehr als einem halben Jahrtausend – als Kolumbus gerade ins Meer stach, um Amerika zu entdecken.
Ein blasser Schimmer von Wehmut berührt den Betrachter solcher Bilder, so wie mich die Postkartenbeschriftung in kräftigem Orange der untergegangenen DDR. Der Mensch wittert nach vorn. Aber er empfindet aus dem Gestern.
 
 
Niederländischer Maler, Der Liebeszauber, 15. Jh. Museum der bildenden Künste, Leipzig – Abbildung  mit freundlicher Erlaubnis des Verlages Bild und Heimat.
 
Redaktion: Frank Becker