Debatte um Sami A.

Ist dem Empfinden der Bevölkerung zu trauen?

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Rechtsstaat-Debatte um Sami A.:

Zu Urteilen im Namen des Volkes
ist Meinung erlaubt
 
Von Ulli Tückmantel
 
Daß einzelne Personen, Personengruppen oder das deutsche Volk in seiner Gänze zu jedem deutschen Gerichtsurteil Beifall zu spenden hätten, ist im Westen Deutschlands seit dem 23. Mai 1949 nicht mehr vorgesehen. Selbstverständlich erlaubt die freiheitlich-demokratische Grundordnung den Hinweis an Gerichte, daß es dem Erhalt des Rechtsfriedens im Land nicht zuträglich ist, wenn Rechtsempfinden und Rechtsprechung komplett auseinander klaffen. Und genauso selbstverständlich ist es einer Demokratie vom Volk gewählten Politikern nicht verboten, sich kritisch zu den Folgen von Urteilen zu äußern, die ein Gericht im Namen des gleichen Volkes spricht.
Daß die Präsidentin des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs darin einen Konflikt zwischen den Staatsgewalten erblicken will, sei ihr unbenommen. Aber es kann nicht davon ablenken, daß im Fall Sami A. viele Köche den Brei verdorben haben. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), der die mögliche Mißverständlichkeit seiner sinngemäßen Äußerung gegenüber der „Rheinischen Post“ am Freitag bedauert hat, Richter sollten im Blick haben, wie sich ihre Entscheidungen zum Rechtsempfinden der Bevölkerung verhalten, gehört übrigens nicht dazu.
Daß das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seinen Beschluß ganz offenkundig nicht mit der Dringlichkeit an das Bamf und das Ausländeramt in Gelsenkirchen übermittelt hat, die der Entscheidung nachträglich beigemessen wird, hat nicht NRW-Flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) zu verantworten, sondern das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Daß Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) es trotz seiner vollmundigen Ankündigungen nicht geschafft hat, eine tunesische Zusicherung einzuholen, daß Sami A. in seinem Heimatland keine Folter droht, ist ebenfalls kein Versagen der NRW-Landesregierung.
Daß nun ausschließlich eine Debatte darüber vom Zaun gebrochen wird, welche Staatsgewalt sich wie zu welcher anderen äußern darf, ist bei allem Respekt vor der Wichtigkeit von rechtsstaatlichen Verfahrensfragen nun wirklich nicht das vordringlich zu lösende Problem. Im Ergebnis droht Deutschland die Rückkehr eines islamistischen Gefährders, den Sicherheitskreise als Zeitbombe einstufen. Wer verantwortet das? Die Mehrheit der Deutschen wird sicherlich kein Gericht fragen, ob sie dazu eine Meinung haben darf.
 
WZ 18.8.2018
 
 
 
Debatte um Sami A.:

Ist dem Empfinden der Bevölkerung zu trauen?
 
Die Minister Stamp (FDP) und Reul (CDU) erleben ein Medien-Gewitter,
in dem es angeblich um den Rechtsstaat geht. Wirklich?
 
Von Ulli Tückmantel
 
Düsseldorf/Berlin. Verfolgt man die Diskussion rund um die durch und durch mißlungene Abschiebung des Sami A., könnte man den Eindruck gewinnen, es ginge von den NRW-Ministern Herbert Reul (CDU) und Joachim Stamp (FDP) eine größere Gefahr für den Rechtsstaat aus als von einem potentiellen islamistischen Terroristen. Für die „Süddeutsche“ ist klar: „Joachim Stamp muß gehen“, er habe die Justiz getäuscht. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) solle eine Entlassung „seines Ministers Stamp prüfen“, verlangte die „Rheinische Post“, der „WDR“ schloß sich an: „Stamp hätte zurücktreten müssen.“ Er habe „den Rechtsstaat gefährdet“, so das „FAZ“-Urteil, „Gericht und Rechtsstaat mißachtet“, rügte die „taz“. Die „Zeit“ fragte, ob die die FDP „noch die Partei der Rechtsstaatlichkeit“ sei.
„Wir müssen dankbar sein, daß wir in einem Land leben, das Sami A. zurückholen läßt.“
 
WAZ-Kommentar
 
Ein Kommentator der „WAZ“ befand gar: „Wir müssen dankbar sein, daß wir in einem Land leben, das Sami A. zurückholen läßt.“ Das Erstaunliche an dieser nibelungenhaften vermeintlichen Rechtsstaats-Treue meinungsführender Medien ist nicht der bisweilen großzügige Umgang mit Fakten, so des kompletten Ignorierens der gängigen Praxis, Abschiebungen selbst bei bereits anberaumten Gerichtsterminen vorzunehmen.
Erstaunlich ist, daß teils die gleichen Medien Joachim Stamp dafür beklatscht haben, mit welchen Tricks der Integrationsminister im vergangenen Jahr – unter Mithilfe des Petitionsausschusses des Landtags, aller Fraktionen mit Ausnahme der AfD, des Duisburger Oberbürgermeisters und heutige Vize-Vorsitzenden der NRW-SPD und des Auswärtigen Amts – die völlig zu Recht erfolgte Abschiebung der heute 16-jährigen Duisburger Nepalesin Bivsi Rana und ihrer Eltern rückgängig machte.
Daß die Spitze des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts damals von einem „Schlag ins Gesicht aller Ausländer, die sich rechtskonform verhalten“ sprach, trug Stamp keinerlei negativen Kommentare ein. Genauso wenig empörten sich die heutigen Verteidiger der Rechtsordnung bislang über die mit bundesdeutschem Recht und Verfassung nicht wirklich kompatible Praxis des sogenannten „Kirchenasyls“, von dem die Düsseldorfer Verwaltungsrichter 2017 erklärten, es sei bei ihnen der Eindruck entstanden, Aufenthalte im Kirchenasyl und sogar in staatlichen psychiatrischen Einrichtungen würden gezielt eingesetzt, um Fristen bei Abschiebungen ins Leere laufen zu lassen.
Daß Stamps rustikaler Umgang mit Gerichten in dem einen Fall Beifall und im anderen Rücktrittsforderungen auslöst, scheint weniger mit bedingungsloser Rechtsstaatsliebe als mit eigenem Gutdünken und persönlich-politischen Vorlieben in der Asylpolitik zu tun zu haben. Worum es sehr offenkundig zumindest einem Teil der Kritik eigentlich geht, wird an der noch viel abenteuerlicheren Reaktion auf die Äußerung von NRW-Innenminister Reul (CDU) gegenüber der „Rheinischen Post“ deutlich: „Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, daß ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“, hatte Reul erklärt und dabei bezweifelt, daß das im Fall Sami A. geschehen sei.
Ein „WDR“-Kommentator flegelte den Minister daraufhin mit den Worten „Das war dämlich, Herr Reul!“ an, der Minister nutze die „Sprache rechter Verfassungsfeinde“. Nahezu reflexhaft zogen etliche Politiker und Kommentatoren, darunter der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolgang Kubicki, der rechtspolitische Sprecher der Bundestags-Linken, ein „ARD-Rechtsexperte“, eine „Zeit“-Autorin sowie etliche Juristen eine angebliche Parallele von Reuls Begriff des „Rechtsempfindens“ zum Nazi-Konstrukt des „gesunden Volksempfindens“.
Dabei glänzten nicht alle Kommentatoren, die jenes angeblich gesunde Empfinden des Volkes in Opposition zur Gesetzlichkeit sahen, mit solidem historischem Rechtswissen. Was den unstreitig lupenreinen Nazi-Begriff zum Problem machte, war, daß die Justiz des Dritten Reichs ihn zur Strafbarkeits-Begründung heranzog. Ab September 1935 galt laut Strafgesetzbuch: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.“
Darüber hinaus fand das „gesunde Volksempfinden“ in mehrere einzelne Strafrechtsnormen Eingang. Als die Alliierten sich 1945 daran machten, die deutsche Rechtspflege zu entnazifizieren, legten sie unter anderem fest, künftig dürfe kein Gericht mehr irgendeine Handlung auf Grund des sogenannten „gesunden Volksempfinden“ für strafbar erklären. Die tatsächliche Umsetzung zog sich in der Bundesrepublik bis zum Anfang der 50er Jahre hin.
Der Solinger Autor Martin Rath verwies im Januar in einem Beitrag für das juristische Portal „Legal Tribune Online“ auf einen Fall aus dem Jahr 1948, in dem ein Amtsgericht und das hessische Oberlandesgericht sich nicht in der Lage sahen, in einem sehr eindeutigen Fall einen Tankstellenbesitzer wegen unterlassener Hilfeleistung zu verurteilen: Der Mann hatte sich trotz ärztlicher Aufforderung geweigert, ein Auto für den Transport eines lebensgefährlich Verletzten zur Verfügung zu stellen.
„Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.“
 
Nazi-Strafgesetzbuch ab 1935
 
Der Mann wurde in zwei Instanzen freigesprochen. Denn die Gerichte kamen zu dem Ergebnis, die einschlägige Strafnorm könne nicht angewendet werden, weil sie immer noch im Wortlaut von 1935 heiße: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies nach gesundem Volksempfinden seine Pflicht ist (…).“
Rath referierte in seinem Beitrag einen zweiten Fall, in dem das Oberlandesgericht Koblenz dagegen den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung so interpretierte, daß „an Stelle des Begriffs ‘gesundes Volksempfinden’ der Begriff ‘gute Sitten’ zu treten habe und damit das natsoz. Schlagwort mit einer Möglichkeit einer willkürlichen Auslegung durch den richtigen Bewertungsmaßstab, der seinem sachlichen Inhalt entspreche, ersetzt werden müsse. Es komme auf das an, was dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, also dem nach der herrschenden Volksauffassung Üblichen, Landläufigen oder Verkehrsmäßigen entspreche“.
Der Vorwurf, NRW-Innenminister Herbert Reul rede dem Verfassungsbruch das Wort, wenn er – was er überhaupt nicht getan hat – fordere, „daß Gerichte dem Rechtsempfinden nach urteilen sollten“ (Kommentar des „NDR“), ist einigermaßen absurd.
Daß es dagegen dem Rechtsfrieden dient, wenn eben nicht nur auf die absolute Rechtmäßigkeit des Verfahrens abgehoben wird, sondern Gerichte in ihrer Unabhängigkeit im Blick behalten, ob Urteile dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, also dem nach der herrschenden Volksauffassung Üblichen, Landläufigen oder Verkehrsmäßigen“ entsprechen, ist offenbar für viele eine Zumutung. Denn Herbert Reuls Begriff der Rechtsauffassung referiert an einen anderen, höchst verdächtigen Begriff: den gesunden Menschenverstand.
Den konnten die Eliten noch nie leiden. Schon Karl Marx wetterte 1847 in der „Deutsche Brüsseler Zeitung“, der „dünkelhafte Grobianismus des ,gesunden Menschenverstandes’“ schaffe sich nichts anderes als die Gelegenheit, „seine moralische Entrüstung über die ,Blindheit’, ,Torheit’ oder ,Schlechtigkeit’ der Widersacher solcher Glaubensartikel auszuschütten“; er sei ein bloßer Dünkel.
Der Schriftsteller Vladimir Nabokov (1899-1977), der als Autor des Skandal-Buchs „Lolita“ seine eigenen Erfahrungen mit der englisch-amerikanischen Variante des gesunden Menschenverstandes, dem „common sense“, machte, wetterte 1941 in einem Vortrag an der Stanford-Universität gegen den Normal-Verstand, dessen Lexikon-Definition als „guter gesunder Alltagsverstand, frei von gefühlsmäßiger Voreingenommenheit und gedanklicher Spitzfindigkeit“ lautet, er sei eine „sehr schmeichelhafte Sichtweise dieser Kreatur“.
Der Normalverstand habe „häßliche, aber starke Nationen veranlaßt, ihre schönen, aber schwachen Nachbarn zu zermalmen, sobald eine Lücke in der Geschichte eine Gelegenheit bot“, er sei „von Grund auf unmoralisch“. Und in seiner schlimmsten Erscheinungsform sei er „der normierte Verstand, und alles, was er versteht ist viereckig, während all die elementarsten Visionen und Werte im Leben herrlich rund sind, so rund wie das Universum oder die Augen eines Kindes bei seinem ersten Zirkusbesuch.“
Es sei aufschlußreich, sich vor Augen zu führen, daß kein einziger Mensch in diesem Saal, so Nabokov vor seinen Zuhörern, „davor sicher wäre, an einem sorgfältig ausgewählten Punkt des geschichtlichen Raum-Zeit-Kontinuums von einer dem Normalverstand gehorchenden Mehrheit in der Raserei der Gerechten sofort und auf der Stelle, jetzt und hier, hingerichtet zu werden. Unter Garantie wird man irgendwo in Raum und Zeit mit der Farbe seiner Religion, Krawatte, Augen, Gedanken, Umgangsformen oder Redeweise bei einem Pöbelhaufen, der just diesen Farbton verabscheut, auf tödliche Ablehnung stoßen. Und je brillanter, je ungewöhnlicher ein Mensch, desto näher ist er dem Scheiterhaufen.“
„Das Populäre ist nicht das Populistische, das Volkstümliche nicht das Völkische, das Einfache nicht das Tumbe. Es sind genau diese Abwertungen der Mitte, die ,einfache’ Menschen in Trumps Arme treiben.“
 
Daniela Dröscher, Schrifstellerin
 
Elite kann offenbar nicht anders, als sich das Rechtsempfinden und den normalen Verstand aller Nicht-Eliten als Mob vorzustellen. Im September erscheint bei Hoffmann und Campe eine sehr persönliche Milieustudie der Schriftstellerin Daniela Dröscher über ihre eigene Sozialisation im westdeutschen ländlichen Kleinbürgertum der 1980er Jahre – für das sich die Autorin mittlerweile nicht mehr schämt.
Zitat aus der Verlagswerbung: „Ich wünsche mir feine Unterschiede. Das Populäre ist nicht das Populistische, das Volkstümliche nicht das Völkische, das Einfache nicht das Tumbe. Es sind genau diese Abwertungen der Mitte, die ,einfache“ Menschen in Trumps Arme treiben.“
Herbert Reuls Bedauern darüber, daß man seine Äußerung habe mißverstehen können, wird wirkungslos bleiben, weil das Mißverstehen ein absichtliches und gewolltes ist. Es soll, wie immer gekrönt vom Vorwurf des Populismus, alle zum Schweigen bringen, die Rechtslage und Rechtsausübung eben nicht nur vom Verfahrensweg, sondern vom Ergebnis her beurteilen.
Und so ist der aktuelle Medien-Paria ausgerechnet „Bild“-Chefredakteur, der die Diskussion um Reul und Stamp auf eine sehr simple Wahrheit zurückführte, die der ganze vertrackte Fall Sami A. zeigt: „Niemand macht es seinen schlimmsten Feinden so bequem wie wir.“
 
WZ 20.8.2018
 
Der Kommentar erschien am 18. August 2018 und der Leitartikel am 21. August 2018 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme der Texte mit freundlicher Erlaubnis des Autors.