Seh-Reise (36)

Sechsunddreißigste Ausfahrt: Wilhelm Lehmbruck

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (36)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
36. Ausfahrt: Wilhelm Lehmbruck
 
Die Handschrift dieses Bildhauers ist kenntlich auf den ersten Blick. Es sind die langgestreckten, nahezu fleischlosen Glieder, mit denen sie sprechen (kaum die Gesichter), eine strenge, stumme Sprache. Worte, die sich nicht nach außen wenden, an einen Partner – sie weisen auf sich selbst zurück, gehen nach innen, übersteigen den Atem-Raum der eigenen Körperlichkeit nicht. Der Urzustand des Menschen, seine Nacktheit, bekommt dadurch etwas Künstlich-Zeremonielles, eine Steigerung ins Festliche. Der Mensch in seiner Blöße, schutzlos bis auf die Knochen, hat immer auch etwas Pathetisches. Sein Schrei nach Bewunderung, ein Schrei der Not, in einem.
Der „Emporsteigende (nackte) Jüngling“ hier ist ein „Lehmbruck“, wie er in den Kunstbüchern steht und in den Museen der Welt. Das Besondere dieses Gusses hier ist sein Standort. Nicht in der neutralisierenden Geometrie eines Kunstgeheges, in ausgesuchter Beleuchtung und ganz zurückgenommen in der Farbigkeit – nein. Hier steht der Nackte inmitten von Natur. Auch wenn es nur die Natur eines Museumsgartens ist: der Efeu um ihn herum wuchert „wild“, das Licht wird bestimmt von der Stunde des Tages, der Jahreszeit, von Sonne und Wolken. Diesen alltäglichen Lebensbedingungen hat sich der Nackte zu stellen, er hat ihnen standzuhalten. Das kann der Wirkung des Stückes Kunst schaden, es kann sie steigern.


Foto © Dieter Schütz - pixelio.de

Auf unserem Bild gewinnt Lehmbrucks Plastik von ihrem Standort in der Natur „natürlich“. Das Tageslicht bringt eine Schulter, den Unterarm, den Oberschenkel zum Leuchten. Das Grau der Bronze bekommt Farbe und modelliert die Formen nach. Die monotone Dunkelheit des Standbeins etwa belebt sich durch den Sonnenklecks auf dem Knie – als sei’s ein Stück aus Fleisch und Blut. Und vor dem regellos wuchernden Blättergeranke des Efeus hebt sich die Architektur des menschlichen Körpers in der künstlichen Verschränkung seiner Glieder noch krasser ab. Was treibt er da, der Mann, eingefroren im Moment des „Emporsteigens“? Wo will er hinaus? Der Mensch, selbst noch nackt, befremdet die Natur. Er ist – das zeigt sein Abbild – ein Teil von ihr. Und doch ist er auch das Andere. Da ist nichts Verbindendes zwischen dem schlichten Efeu, das da vor sich hinwächst, und ihm, dem Menschen. Der hat sichtbar kein Interesse an dem Blattwerk in seinem Rücken, er hat mit sich selbst zu tun. Versponnen in seine Gedanken „schreitet“ er „empor“, auch wenn Lehmbruck ihm gottlob kein Ziel vor Augen setzt, wo er ankommen könnte. Zwar geht er, doch er geht - in sich. Vor diesem „Emporsteigenden“ hat die Natur nichts zu befürchten.
Das immerhin hat der Efeu (als stumme Natur) hinterm Rücken von Wilhelm Lehmbrucks Plastik zur Sprache gebracht.
Doch wenn aus der Natur dann gar noch „Der öffentliche Raum“ wird, für den dergleichen Figuren ja ursprünglich gedacht waren (und keineswegs fürs Museum) –
1927 (da war Bildhauer bereits acht Jahre gestorben, von eigener Hand) wandelte Duisburg, Lehmbrucks Geburtsstadt, den bisher privaten Park vor der Tonhalle in eine öffentliche Grünanlage um. Dabei kam dort, nach dem Wunsch der Stadtverordneten, auch eine Plastik des „Großen Sohnes der Stadt“ zu stehen, Wilhelm Lehmbrucks „Kniende“, die er 1911 in Paris geschaffen hatte. Die „Kniende“ ist eine nackte Frauengestalt, sie könnte die Schwester des „Emporsteigenden Jünglings“ sein.
Teile der Bevölkerung empörten sich über das Skandalon, den nackten Leib einer Frau in aller Öffentlichkeit auf- und auszustellen. Angeheizt von einer bestimmten Presse tobte sich anhand dieser Plastik in der Stadt eine Schlacht um das sogenannte Gesunde Volksempfinden aus, um die Wahrung von Sittlichkeit und Anstand (die Formel zu allen Zeiten). Untersekundanerinnen des katholischen Lyzeums verhängten die Skulptur mit einem weißen Bettlaken. Vier angetrunkene junge Kaufleute wurden handgreiflich und beschädigten, im Schutz der Nacht, die „Kniende“ schwer. (Immerhin: Zu Ehren der Stadt Duisburg sei gesagt, daß die Plastik sieben Jahre an ihrem Ort stehen blieb. Erst 1933 wurde sie im Bildersturm der Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ weggefegt.)
Interessanter in diesem Zusammenhang scheint der Vorschlag, den Studierende der Duisburger Musik- und Orchesterschule auf dem Höhepunkt des heißen Sommers 1927 zu machen hatten: Die Söhne und Töchter Apolls plädierten dafür, die „Kniende“ aus dem Park zu entfernen und ins Museum zu bringen. Dort würden sie ja „nur Kunstkenner und –liebhaber besuchen“. Da war sie also, nicht zum ersten und beileibe nicht zum letzten Mal: die Vorstellung vom Museum als Mausoleum, als Totenhaus von Kunst.
Seit 1964 und bis heute steht die Plastik am Eingang des Duisburger Kunstmuseums, das den Namen Wilhelm Lehmbrucks trägt. Auf der Schwelle von Natur und Museum. Jeder mag für sich entscheiden, ob das ein großer Schritt sei oder ein kleiner.
 
Wilhelm Lehmbruck, „Emporsteigender Jüngling“, 1913/14, Bronze - Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg

 

Redaktion: Frank Becker