„Freunde in der Not gehen 1000 auf ein Lot“

Sprichwörtliche Weisheiten in der abendländischen Literatur

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Freunde in der Not gehen 1000 auf ein Lot“
 
Sprichwörtliche Weisheiten in der abendländischen Literatur
 
 
Lot war früher nicht nur Bezeichnung für ein Senkblei, sondern auch für ein Gewicht, das nach heutigen Messwerten ungefähr 15 Gramm entspricht; ein noch kleineres Gewicht war das Quentchen oder Quentlein, das meist mit 1,5 Gramm gleichzusetzen ist. Nur wenn man die alten Wortbedeutungen kennt, macht ein überaus häufig gebrauchtes Sprichwort auch heute noch Sinn (hier in der nur selten belegten ausführlicheren Form angeführt):
 
            „Freunde in der Noth,
            gehen zehn auf ein Loth;
            Und so sie sollen behülflich seyn,
            gehen Zehne auf ein Quentelein.“
 
Das meint, ungetreue Freunde sind so leichtgewichtig, daß ihrer insgesamt zehn, hundert oder gar tausend so schwer wie ein Lot sind: Jeder wiegt entweder 1,5 oder 0,15 oder 0,015 Gramm; wenn sie ihrem in Not geratenen Freund zur Hilfe kommen sollen, so wiegen sie jedenfalls höchstens 0,15 Gramm.
 
Von solchen und ähnlichen Sprüchen sind die Lexika der Redensarten geradezu überfüllt. Hofmannsthal trägt diesem Befund Rechnung, indem er 1911 in seinem „Jedermann“ den sprichwörtlichen Charakter der Sentenz betont, die er aus dem erstmals 1510 gedruckten mittelenglischen „Everyman“ übernahm:
 
            „It is sayd, in prosperyte men frendes may fynde,
            Whiche in adversyte be full unkynde.“
 
            „Hab eh und immer was reden hören
            […]    
            Es hieß: So lang einer im Glück ist
            Der hat Freunde die Menge,
            Doch wenn ihm das Glück den Rücken kehrt,
            Dann verläuft sich das Gedränge.“

'Man sagt' oder 'man redet immer' spricht für die Existenz eines langen und weit verbreiteten Sprichworts, das in beiden Dichtungen bei Jedermanns Abschied von treulosen Freunden („They have forsaken me everychone“) berufen wird.
 
Dieser Sentenz wird hier in ihren immer neuen redensartlichen Ausformungen nicht nachgegangen; stattdessen sollen einige alte literarische Wendungen Thema sein, die gleich den sprichwörtlichen Belegen zeigen, seit wann und wie sehr das Problem der nicht verläßlichen Freundschaften den Menschen auf den Nägeln brannte.
 
Im Alten Testament kann man in einem der Sprüche Salomonis (19.7) lesen:
 
            „Den Armen hassen all seine Brüder; wie viel mehr halten sich seine       
            Freunde von ihm fern!“
 
Um 170 vor Christus formuliert der Römer Ennius sinngemäß Ähnliches: „Amicus certus in re incerto cernitur“ (der scheinbar sichere, verläßliche Freund wird erst in einer unsicheren Situation richtig erkannt); das heißt in einer echten Notsituation scheiden sich die falschen von den echten Freunden.
Auch der berühmt Dichter Ovid, mußte die Unzuverlässigkeit der meisten seiner Freunde erfahren, als ihn im Jahr 8 nach Christus das Verbannungsurteil des Kaisers Augustus traf: „Meine traurigen Freunde, aus deren großer Zahl nur der eine oder andere noch da war.“ Und er zieht in seinen „Tristia“ das Resümée:
 
            „Donec eris felix, multos numerabis amicos;
            Tempora si fuerint nubila, solus eris.“
            (Während das Glück dir lacht, wirst du Freunde die Menge haben,
            Wenn sich der Himmel bewölkt, findest du dich bald allein.)
 
Cervantes hat 1605 im Prolog zu seinem „Don Quichote“ die Ovid'sche Formulierung wörtlich zitiert; er schrieb sie allerdings irrtümlich dem pessimistischen römischen Staatsmann Cato zu:
 
            „Kommt Ihr auf die Unverlässlichkeit der Freunde, so ist gleich Cato da, der Euch sein Distichon anbietet: „Donec eris ...“.
 
Wie weit bekannt die Sentenz des Ovid war, zeigt sich einige Jahre später, wenn Friedrich Harsdörffer 1649 dieses wörtlich nebst einer Übersetzung anführt:
 
            „Dieweil du sitzt im Glück
            Wirst du viel Freunde nennen,
            Wann trübes Wetter kommt,
            So wird dich keiner kennen.“
 
Der als ältester deutscher Sangspruchdichter geltende „Spervogel“ (geb. um 1170) faltet das Thema aus:
 
            „die friunt getuont sîn lîhtes rât,
            swenn er des guotes niht enhât.
            Sie kêrent ime den rugge zuo und grüzent in vil drâge.
            Die wîle dêr mit vollen lebet,
            sô hât er holde mâge.“
            (Die Freunde finden leichten Rat:
            wenn er seines Gutes verlustig geht,
            so kehren sie ihm den Rücken zu und grüßen ihn nicht mehr.
            In der Zeit, als er mit vollem Aufwand lebte,
            da hatte er viel geneigte Verwandte.)           
 
Es ist bemerkenswert, wie Hofmannsthal  mehr als 700 Jahre später die Wendung „den Rücken kehren“ in diesem Zusammenhang wieder aufgenommen hat.
 
Unter dem Titel „Frîdankes bescheidenheit“ (des Freidenkenden Bescheidwissen)  kam um 1230 die älteste, sehr umfangreiche Sprichwörtersammlung in mittelhochdeutscher Sprache heraus. Es verwundert nicht, daß der allbekannte Spruch auch hier mehrfach begegnet:
 
            „wirt dem man daz guot benomen,
            sô ist er ouch von friunden komen.“
            (Verliert der Mensch sein Hab und Gut,
            so verliert er auch die Freunde.)
 
            „Wol im, der viel friunde hât,
            wê im, des trôst an in stât.“
            (Wohl dem, der viele Freunde hat,
            wehe ihm, dessen Trost auf ihnen beruht.)
 
            „die wil die biutele klingent,
            die friunt gar gerne dringent.
            Verliesen si ihr klingen,
            sô wirt dar kleine dringen.“
            (Solange die Geldbeutel klingen,
            drängen sich die Freunde gern herzu.
            Verstummt das Klingen,
            so wird das Gedränge kleiner, hört das Gedränge auf.)
 
Etwa um dieselbe Zeit schreibt ein Spruchdichter unter dem Namen „Der Marner“:
 
            „guoter friunde in nôt
            ieman vil lützle siht.“
            (Freunde in der Not sieht man sehr selten, eigentlich nie.)
 
            „ich hât mangen lieben friunt,
            dô ich bî guote was.“
            (Ich hatte viele liebe Freunde,
            als ich noch meine Güter hatte.)
 
Hugo von Trimberg, der in seinem 1313 erschienenen „Renner“ alle Weltgegebenheiten erkunden will, kommt zu dem lakonischen Schluß:
 
            „Swindet aber mir daz gout,
            Sô swindent friund und hôher muot.“
            (Wenn mir jedoch meine Güter dahinschwinden,
            dann verschwinden auch die Freunde und mein frohes Lebensgefühl.)
 
In etwas holprigen Hexametern schreibt Eberhand von Cersne in seinem Benehmenskompendium „Der Minne Regel“ um 1400:
 
            „Went bistu riche, so tzellestu vele frunde;
            Bistu ellende, verarmet, ich abewende
            Mich von dir snelle, sus hast groß vngevelle.“
           (Wenn du reich bist, zählst du viele Freunde;
            bist du aber arm, dann wende ich mich sofort von dir ab,
            und dann hast du schweres Ungemach.)
 
Der weise und berühmte Sebastian Brant zieht 1494 in seinem „Narrenschiff“ das kürzeste Resümee und überläßt die allbekannte Fortsetzung seinen Lesern:
 
            „Wer pfening hat, der hat vil freund.“
 
Der seinerzeit überaus populäre Nürnberger Meistersänger Hans Folz beruft sich um 1500 (wie auch Thomas Murner in seiner „Narrenbeschwörung“ von 1512) auf das Sprichwort:
 
            „Recht freunt erkennt man in der not.
            Ir gen wol hundert auff ein lot.“
 
Mit Robert Burtons medizinisch-volkskundlichem Kompendium „The Anatomy of  Melancholy“ von 1621 schließt sich gewissermaßen ein Kreis, denn Hofmannsthal, der das Werk besaß und als wichtige Quelle für sein „Jedermann“-Spiel nutzte, konnte hier eine Variante der ihm durch den „Everyman“ vertraute Formel entdecken, daß Freunde und Verwandte den arm Gewordenen verlassen:
 
            His brethren hate him if he be poor […] friends and strangers all forsake.“
 
Goethe schließlich nahm die Weisheit des mittalalterlichen Reinhard Voss-Epos zustimmend auf, als er 1794 im 12. Gesang seines „Reineke Fuchs“ das Resümee nach des listenreichen Fuchses siegreichem Zweikampf gegen den Wolf zog:
 
            „In der Welt geht’s immer so zu. Dem Glücklichen sagt man:
            'Bleibet lange gesund!' er findet Freunde die Menge.
            Aber wem es übel gerät, der mag sich gedulden.“
 
Das heißt: Dem Beglückten tut man freundlich, der ins Unglück Geratene kann darauf lange - bis zum St. Nimmerleinstag -  warten.
 
„Freunde die Menge“ - die beobachtet Goethe wie später Hofmannsthal um den vom Glück Begünstigten; verläßt diesen das Glück, „so verläuft sich das Gedränge.“
 
Daß es zu den bittersten Erfahrungen im menschlichen Leben gehört, sich in der Not von einem bis dahin scheinbar treu ergeben geglaubten Freund verlassen zu sehen, ist keine Erkenntnis aus jüngerer Zeit, vielmehr war und ist sie seit fast 2000 Jahren in jedem Jahrhundert präsent, wie die kleine Blütenlese vornehmlich aus dem mittel- und frühneuhochdeutschen Schrifttum bestürzend zeigen kann: Solch üble Erfahrung wird als Unabänderlichkeit immer wieder ins Gedächtnis gerufen.
 
 
©  Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018