Der fahle Reiter

Joachim Klinger - „Reise in das Ungefähre“

von Frank Becker

Der fahle Reiter
 
Joachim Klingers lyrische Spätlese
 
Irgendwann erreicht ein jeder Mensch einen Abschnitt in seinem Leben, der ihn mit einem wehmütigen Blick zurück und einer stillen Sorge bei der Ausschau nach vorn veranlaßt, zwischen gehabtem Glück und leisem Hoffen zu bilanzieren. Daß sich dieser Schwebezustand der Befindlichkeit natürlich bei einem Dichter in besserem Gewahrsam befindet, liegt auf der Hand. Kann er doch in Worte fassen – hier in Vermaß und Metrik – was alle anderen stumm und mitunter grübelnd umtreibt.

Joachim Klinger, dessen ebenso humorvolle Lyrik auf den Spuren Morgensterns und Ringelnatzens hier neben seinen Cartoons schon angelegentlich erwähnt worden sind, hat unter den genannten Vorzeichen eine bewegende „lyrische Spätlese“ vorgelegt, die ich Ihnen nachdrücklich empfehlen möchte: „Reise ins Ungefähre“ – trefflicher kann man eine solche Sammlung nachdenklicher Gedichte wohl nicht übertiteln. Natürlich kommen unsere alten Freunde Morgenstern und Zipferlak darin vor, denn der tiefsinnige Humor Klingers (*1932) darf nebst angemessenem Schalk in keinem seiner Bücher fehlen. Vor allem aber reflektiert Joachim Klinger dieses Mal zu Herzen gehend die Auseinandersetzung mit dem wenigen, was bleibt, wenn man im fortgeschrittenen Alter die durchmessene Lebensspanne mit dem Ausblick auf das Kommende, die „schmale Pforte“ beleuchtet.

 
Am Ende einer Lebenszeit
zeigt sich so manches fraglich.
Zum Schluß ist die Genügsamkeit
erwärmend und behaglich.
 
Weisheit ist eines der großen Geschenke des Alters. Sie vermag über die Verluste anderer Fähigkeiten zwar nicht ganz hinwegzutrösten, ist aber ein später Ausgleich für all die Dummheiten, die man begangen hat, die Versäumnisse, die sich nit wettmachen lassen und ist ein lindernder Verband für die Wunden, die einem das Leben geschlagen hat. Schöne Erinnerungen an gehabte Freuden, errungene Liebe, gemachte Reisen (Matera, du, mein Jerusalem), erreichte Ziele, Reminiszenzen an literarische Genüsse – das ist der Nektar, den wir aus der Vergangenheit saugen. Joachim Klingers lyrische und moralische Spätlese gibt eine Anleitung dazu. Keine Resignation, notabene! Denn auch auf den nächsten Frühling in Berlin kann man sich herzlich freuen:
 
Da schau! Das nennt man Blütenpracht!
Forsythie und Flieder,
Magnolie, die über Nacht
Sich brüsten auf und nieder…
 
Unausweichlich aber bleibt das Ende, und gut beraten ist, wer die Augen nicht davor verschließt. Es kommt. So oder so.
 
Am Ende
 
Was bleibt, bleibt nur auf Zeit.
Nichts währt, wird es auch Währung.
Wuchs und Verfall, Geduld und Streit

Zuletzt © Joachim Klinger
wie weggespült in Gärung.
Doch lange noch ein Laut im Raum
und schön der alte, hohe Baum.
 
Sieh doch die Hände: Sie sind leer!
Voll ist die Luft mit Asche.
Schwarz dieses Land und wie aus Teer.
Wo treibt die Abschiedsflasche?
Wo ist das Meer mit seinen Möwen?
Wo flieht die Antilope vor den Löwen?
 
Ach, nirgends mehr die Sanftheit einer Blüte,
und Stern um Stern, der sich entfernte.
Die Nacht verlor die zarte Güte
und spricht kein Wort, das ich erlernte.
Allein, allein, versehrt, geschunden,
auf beiden Füßen runde Wunden.
 
Du kennst es nicht: das Ende deiner Qualen,
doch ahnst du wohl das Ende deiner Zeit.
Laß dich nicht täuschen von Finalen,
und schrei nicht, weil jetzt niemand schreit!
Wie lange noch der Laut im Raum?
Wie schön noch dieser alte Baum!
 
Lieben Sie das Leben? Möchten Sie eine Anleitung zum inneren Frieden und Glücklichsein besitzen und sich mit dem Unausweichlichen versöhnen? Dann legen Sie sich Joachim Klingers „Reise ins Ungefähre“ zu – eine bessere (zudem günstigere) Empfehlung kann ich Ihnen nicht geben. Die eingestreuten Illustrationen von seiner Hand runden das rare Projekt. Das Buch soll griffbereit auf Ihrem Nachttisch liegen. Sie werden es zu schätzen wissen. Von mir dafür unser Prädikat, den Musenkuß.
 
Joachim Klinger - Reise in das Ungefähre“
Lyrische Spätlese mit acht Illustrationen des Autors
2018 Grupello Verlag 80 Seiten, Klappenbroschur, Format: 13 x 21 cm -  ISBN 978-3-89978-320-9
12,90 Euro
 
Weitere Informationen: www.grupello.de/