Der alte Mann 15

(... und der Indianer)

von Erwin Grosche

Foto © Rike / pixelio.de
Der alte Mann und der Indianer
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren.
Er war wütend, und jeder, der ihn kannte, sah das an seinem Gang. Als wollte er aller Welt im Weg stehen, schritt er breitbeinig voran. „Ach, wenn ich doch einen Indianer hätte“, murmelte der alte Mann. Wer hätte nicht gerne einen Indianer an seiner Seite? Einen schweigsamen Weggefährten, der immer da war, wenn man sich durchsetzen mußte. Einmal, da wollte er noch frühstücken, als alle anderen schon beim Abendbrot saßen. Da kam er in das „Engernfaß“ und sah aus wie ein Frühstücksbrötchen, belegt mit Wurst oder Käse und fragte tatsächlich nach einem Frühstückskaffee. „Ha, ha, a“, machte da der Wirt. „Sie wissen schon, wie spät es ist.“
Da hätte er einen Indianer gebrauchen können. Der hätte gleich seinen Tomahawk aus der Tasche gezogen und damit die Dartscheibe an der Wand geteilt. Das würde schon mal Eindruck machen. Und dann hätte der Indianer gesagt: „Hören sie mal zu, sie Pappenheimer. Der alte Mann will frühstücken, sonst macht sich nämlich seine Mama Sorgen, weil der alte Mann, der steckt nämlich noch im Wachstum.“ Und dann wäre der Wirt bleich geworden, wie nur Bleichgesichter bleich werden können und hätte gesagt: „Das habe ich doch nicht gewußt. Das muß man mir doch sagen, daß sich seine Mama sonst Sorgen macht. Natürlich habe ich gesehen, daß der alte Mann noch sehr klein ist, aber ich habe gedacht, das wird nichts mehr mit dem Wachstum.“ „Und sowieso“, würde der Wirt noch hinzufügen, „gelten die normalen Frühstückszeiten nicht für den alten Mann. Weil er nämlich so lieb ist, und das Herz auf dem rechten Fleck hat.“ „Und, und, und?“, hätte dann der Indianer nachgebohrt und dabei böse mit den Augen gerollt. „Weil er so bescheiden geblieben ist?“„Ja, geht doch“, würde dann der Indianer sagen. „Geht doch.“   
Der alte Mann mußte lachen. Seine Laune verbesserte sich mit jeder Minute, in der er an diese Unterstützung dachte. Er erinnerte sich an die Frühstücksgespräche mit Anne, seiner Frau. Er wußte noch, wie sie einmal die Tageszeitung nicht bekommen hatten und er Anne am Frühstücktisch in die Augen schauen mußte, obwohl er nicht, wie versprochen, den Trockner repariert hatte, und im Flur es immer noch dunkel war, weil er die kaputte Birne nicht ausgewechselt hatte. „Ich habe dreimal bei der Redaktion angerufen, und die haben mir sogar gesagt, daß mein Fall Chefsache ist, aber getan haben die trotzdem nichts“, hatte er zu Anne gesagt. 
„Ich meine“, dachte der alte Mann, „dafür gibt es doch eine Zeitung, wenn die Frau am Klagen ist über den Trockner und daß im Flur noch nicht die Birne ausgewechselt ist, daß man dann hinter seiner Zeitung hervorschauen kann und murmelt: „Schatz, die Welt steht im Flammen und du denkst an deinen Trockner.“ Da hätte er auch einen Indianer gebraucht. Mit dem wäre er in die Geschäftsstelle der Zeitung gegangen und der hätte sofort seinen Tomahawk ausgepackt und ihn in die Infotheke gehackt. Das hätte schon mal Eindruck gemacht. „He ihr Pappenheimer“, hätte der Indianer dann geraunt, „ der alte Mann braucht eine Zeitung, sonst muß er nämlich seiner Frau in die Augen schauen und er hat doch noch nicht den Trockner repariert und die Birne im Flur ist immer noch kaputt.“
Und dann wären alle bleich geworden, wie nur Bleichgesichter bleich werden können und hätten gesagt: „Das muß uns auch einer sagen. Das haben wir doch nicht gewußt, daß er seiner Frau in die Augen schauen muß, und sowieso ist unser Zeitungsausträger auch ein prima Trockner-Reparierer  und „Birnen auswechseln“ ist sein zweiter Vorname. Und natürlich gelten die normalen Zustellzeiten nicht für den alten Mann, weil er nämlich so lieb ist und das Herz auf dem rechten Fleck hat.“„Und, und, und?“, hätte dann der Indianer nachgehakt. „Weil er so bescheiden geblieben ist“, würden dann alle rufen. Sie waren im Staubecken auf der Lieth gelandet. Es regnete nicht mehr, und zur Abwechslung ließ sich blauer Himmel sehen. Er lief zu seinem Hund, der sich mit einem Schäferhund anlegen wollte. „Aus“, rief er.  Zum Glück ging auch diese Rangelei wieder gut aus. „Siehst du“, sagte der alte Mann zu seinem Hund. „Ich kann auch irgendjemandes Indianer sein.“ Und der kleine Hund fühlte sich geborgen und wedelte mit der Rute, als wäre er der alte Mann der stärkste Mann der Welt. 


© 2017 Erwin Grosche
(Aus dem Buch: „Der alte Mann und sein Hund: Warum der Hawaiitoast auch schon bessere Zeiten gesehen hat “ Bonifatiusverlag)