Der alte Mann 16

(... und die PIN)

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der alte Mann und die PIN
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Es war noch früh, und die Sonne ging langsam hinter dem Golfplatz auf der Haxterhöhe auf. Schon bald würde er seinen Pullover ausziehen müssen, denn im Radio waren Temperaturen von bis zu 28 Grad angekündigt worden. Er schaute auf seine Uhr. Um 8 Uhr machte der SÜDRING auf, da wollte er einkaufen gehen, denn sein Kühlschrank war leer und Hundefutter hatte er auch keines mehr. Zurück zu Hause sagte er zu seinem Hund: „Du bleibst hier und paßt auf.“ Er kaufte nicht gern im SÜDRING ein. Alles war ihm zu laut und zu unruhig. Wie immer hetzte er durch den Combi-Markt und kaufte mehr ein, als er brauchte. Endlich stand er vor der Kasse und packte seine Waren auf das Band. Gleich fiel er wieder auf. Erst hatte er vergessen sein Gemüse auszuwiegen, später fand die Verkäuferin im Einkaufswagen noch eine Dose Hundefutter, die er unter seinen Tragetaschen übersehen hatte. „Das kann passieren“, sagte Frau Lohmann, die Kassiererin, aber blickte dabei, als dürfte so etwas nicht passieren. Schnell hatte sich hinter ihm eine Schlange gebildet. Er mußte sich beeilen, damit er nicht alle noch mehr aufhielt. Da musste jeder Griff sitzen. Er schaute sich um und sah, wie ihm alle hoffnungsvoll zunickten. Sie waren nun eine Schicksalsgemeinschaft geworden. „Zahlen sie bar oder mit Karte?“, fragte Frau Lohmann. „Ich zahle mit Karte“, sagte der alte Mann. Er spürte den Druck. Es kam nun auf ihn und seine Entschlossenheit an. Er dachte nach. Wie war nochmal die PIN seiner EC-Karte gewesen? Erinnerten nicht die Geheimzahlen an die alte Postleitzahl von Paderborn. „Ich kann mich nicht konzentrieren“, flüsterte der alte Mann. „Ich habe es heute ein wenig eilig“, traute sich eine Frau zu sagen, die mit ihrer Tochter in der Schlange stand. „Nur keine Hektik“, sagte der alte Mann. „Unter Stress kann ich nicht arbeiten.“ Frau Lohmann zeigte behutsam auf die Endsumme, die auf dem Registriergerät angezeigt wurde. Der Countdown lief. „Sie schaffen das“, sagte der Student mit der Latzhose, der hinter dem alten Mann stand. Der alte Mann nickte. Endlich hatte er seine EC-Karte gefunden, die er lose in einer Innentasche seiner Jacke deponiert hatte. Frau Lohmann drehte ihm das Kartenlesegerät entgegen. Dem alten Mann gelang es, seine Karte in den Schlitz des Kartenlesegeräts zu schieben. Er blickte sich um. „Sie schaffen das“, sagte nochmal der Student mit der Latzhose. Eine junge Frau nickte ihm aufmunternd zu. Wäre es hilfreich gewesen, hätte man ihm sogar die Muskeln massiert. Ein Kind wollte ihn, wie Kinder es gerne machen, durch das Zurufen anderer Zahlen durcheinanderbringen, hielt sich aber zurück, um lebend aus dem Combi-Markt zu kommen. Der alte Mann kratzte sich am Kinn. Gab es denn so was. Er hatte doch gerade noch die Geheimzahl im Kopf gehabt. Gerade hatte er noch gewußt, wie die vierstellige PIN lautete. Alle schauten ihn entsetzt an. Hatte er wieder laut mit sich gesprochen? „Kennt jemand die alte Postleitzahl von Paderborn?“, fragte der alte Mann. Der Student mit der Latzhose schüttelte den Kopf. Keiner wußte Bescheid. Schließlich drehte Frau Lohmann das Mikrophon zu sich und machte eine Durchsage: „Wenn einer der werten Kunden noch die alte Postleitzahl von Paderborn kennt, soll er sich bitte an Kasse 1 bei Frau Lohmann melden.“ Der alte Mann schaute auf den Boden. So etwas war ihm noch nie passiert. Schließlich kam eine Frau nach Vorne. „Die fing doch mit einer 4 an“, sagte sie zögerlich. Der alte Mann lachte. Er nickte. „Natürlich“, sagte er. „4,7, 9, 0. Die alte Postleitzahl von Paderborn war 4790.“ und gab die PIN in das Kartenlesegerät ein. Es hatte geklappt. Erleichtert schaute er sich um. Alle atmeten erleichtert auf. Einige klatschten sogar. „4790“, sagte der alte Mann. „Natürlich. Alles kann so einfach sein.“ Er verneigte sich.
 


© 2017 Erwin Grosche
(Aus dem Buch: „Der alte Mann und sein Hund: Warum der Hawaiitoast auch schon bessere Zeiten gesehen hat “ Bonifatiusverlag)