Streit um Totenhemden

Ein volkstümlichen Brauch und seine literarischen Rezeptionen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Streit um Totenhemden
 
Ein volkstümlichen Brauch und seine literarischen Rezeptionen
 
 
Von Heinz Rölleke
 
In einer Zeit, in der sich das alte Brauchtum um einen Verstorbenen und in eins damit die Begräbniskultur stark wandeln oder gänzlich verschwinden, ist für jüngere Menschen wohl erklärungsbedürftig geworden, was früher selbstverständlich war: Welche Usancen es für einige in diesen Bereich gehörige Requisiten gab und was sie bedeuteten. Dabei kam seit ältesten Zeiten der Ankleidung der Leiche mit einem Toten- oder Leichenhemd eine große Rolle zu.
 
            In den mittelalterlichen Totentanzdarstellungen, die einen Reigen von Verstorbenen zeigen, die sich (meist auf einem Friedhof) zum Geigenspiel des leibhaftigen Todes bewegen, tragen viele Skelette einen hemdartigen weißen, oft ramponierten oder zerfetzten Überwurf, Zeugnis, daß man jedem Verstorbenen sein Totenhemd mit in den Sarg zu geben pflegte. Dahinter steckt wohl auch der Versuch, im anderen Leben angemessen bekleidet zu erscheinen. Man fürchtete sich, unbekleidet im Grab zu liegen, wie es ein Kirchenlied aus dem Mittelalter andeutet:
                       
            „Und wenn du legst dein kleider ab,
            gedenk du werdst blosz gehen ins grab,
            man geb dir ein alt todtenhembt“ (DWB XI.1.1, Sp. 609).  
 
Und so gehörte vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert - und in ländlichen Gegenden zum Teil bis heute - das Anlegen des Sterbehemdes ganz selbstverständlich zum Begräbnisritual. Das Grimnm'sche Wörterbuch formuliert noch 1885 ganz lakonisch in der Präsensform:
 
            „Leichenhemd:  hemd worein eine leiche gekleidet wird, todtenhemd.“
 
Um diesen Brauch rankte sich vielerlei Aberglaube, der sich auf die Herstellung solcher Hemden, ihr Aussehen und vor allem ihre Funktion bezog. So durfte man etwa beim Nähen des Totenhemdes für sich selbst oder für andere keinen Faden mit den Zähnen abbeißen, sonst gab es Unglück. Leichenhemden hatten landschaftlich verschiedenes Aussehen: Die meisten wurden aus weißem Linnen, mit einigen schwarzen Bändern geziert, hergestellt. Wurde ein solches Hemd nur fragmentarisch (etwa mit einem fehlenden Ärmel oder anderen Defekten) und also nicht regelkonform in den Sarg mitgegeben, so fand der Tote keine Ruhe, sondern mußte nachts umgehen, bis der Schaden behoben war. Ein Begräbnis ohne Leichenhemd oder der Verlust desselben war nach dem Volksglauben für den Verstorbenen wie meist auch für seine Hinterbliebenen eine Katastrophe. Wer ein solches Leichentuch stahl, schädigte nicht nur den Verstorbenen schwer, sondern brachte den Dieb ebenfalls in Lebensgefahr. Davon handeln sehr viele, häufig jahrhundertelang überlieferte Sagen wie Aufzeichnungen zu Bräuchen und damit in Verbindung gebrachten Vorfällen. Ein frühes literarisches Zeugnis bietet der bekannte Barockschriftsteller Georg Philipp Harsdörffer in seiner 1649 erschienenen „Mord-Geschichte“:
 
            „In Mähren hat sichs begeben/ daß ein ehrlicher Bürger dem Ansehen nach/ auf dem Kirchhof in der Statt begraben worden/ welcher bey der Nacht ist aufgestanden/ und hat etliche ümgebracht: seinen Sterbkittel aber hat er allezeit bey dem Gab liegen lassen. Dieses haben die Wächter beobachtet/ und ihm den Kittel weggenommen. Als nun dieses Gespänst zu rucke kommen/ hat es den Kittel von den Wächtern gefordert/ und gedraut sie alle zu erwürgen/ daß sie aus Furcht den Kittel hingeworffen.“
 
1684 hat Eberhard W. Happelius in seinen „Grösten Denkwürdigkeiten der Welt“ unter der Überschrift „Der erscheinende Verstorbene“ die Geschichte erneut wiedergegeben.


  Michael Wolgemut, Totentanz in Hartmann Schedels Weltchronik (1493)

1813 schrieb Goethe seine Ballade „Der Totentanz“. Der Türmer erblickt um Mitternacht, wie die Toten aus den Gräbern steigen:
 
         „Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
            In weißen und schleppenden Hemden.“
 
Damit sie sich beim Tanzen freier bewegen können, legen die Gerippe ihre Totenhemden ab. Der Türmer raubt eines und flieht damit in den Kirchturm zurück. Der Bestohlene kann ohne das Hemd nicht zu seiner Grabesruhe zurückkehren:
 
            „Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht,
            […] Und klettert von Zinnen zu Zinnen.
            […] Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,
            Gern gäb er ihm wieder den Laken.
            Da häkelt  - jetzt hat er am längsten gelebt -
            Den Zipfel ein eiserner Zacken.
            […] Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
            Und unten zerschellt das Gerippe.“
 
Mit dem Ende der Geisterstunde kann das Gespenst nicht mehr umgehen, und seine zerschellenden Knochen  finden ohne das „Laken“ keine Ruhe mehr im Grab.
 
Das Totenhemd war also für jeden Verstorbenen ein äußerst wichtiges Requisit, und man tat alles, für sich und seine Verwandten vorzusorgen, das heißt, man nähte schon früh die bei der Beerdigung unabdingbaren Totenhemden und bewahrte sie treulich bis zum Letzten Stündlein.
 
Der Volkskundler Ludwig Stackerjan hat 1867 einen entsprechenden Brauch aus dem Oldenburgischen mitgeteilt. Für den Tag ihrer Trauung muß die Braut zwei Hemden bereit halten. Sie werden am „Ehrentag“ getragen:
 
            „Am folgenden Tage faltet die junge Frau die Hochzeitshemden zusammen und legt sie weg. Erst nach dem Tode beim Auskleiden der Leiche kommt das Hochzeitshemd wieder zur Verwendung. In Stedingen bringt die Braut das Totenhemd als Aussteuer mit.“
 
Am 20. Oktober 1999 berichtet die Süddeutsche Zeitung über eine immer noch anzutreffende ähnliche Begräbnissitte:
 
            „Die Männer werden in die von ihren Ehefrauen genähten Leichenhemden gewickelt, die sie  bereits am Tag der Hochzeit in Empfang nehmen durften.“
 
Schon 1811 setzt Ludwig Uhland in einer balladesken Szene die Aussteuer einer Braut mit dem Totenhemd in Verbindung, wenn die tanzenden Totengeister dem jungen Mädchen zurufen:
 
            Ist dein Brautbett schon gewoben?
            Spinnst du schon fürs Totenhemd?
 
Auch Hugo von Hofmannsthal hat 1911 in seinem „Jedermann“ auf eine ähnliche Verbindung von festlicher (Hochzeits)Tafel und Totenkleid angespielt, als er in Anlehnung an das früher von ihm übersetzte Drama Maurice Maeterlincks „L'Intruse“ (1890) den erschreckten Ausruf des verwirrten Jedermann an seine Festgäste formuliert:
 
            „Seid allesamt willkommen sehr,
            Erweist mir heut die letzte Ehr.
            […]
            Sie sitzen ja alle im Totenhemd!“
 
Nachdem das Festmahl durch den Auftritt des leibhaftigen Todes abgebrochen ist, kommt Jedermann zur Einsicht in sein verfehltes Leben und legt eine Beichte ab. Der Teufel, der ihn sicher zu haben meinte, ist maßlos erzürnt und spottet über den Büßer:
 
            „Ich wollt, daß er im Freuer läg.
            Und kommt in einem weißen Hemd  
            Erzheuchlerisch und   ganz verschämt.“
 
Jedermann trägt auf dem Gang zum Grab sein Leichenhemd, dessen weiße Farbe zugleich auf die Vergebung der Sünden deutet. Das Motiv kann auch auf seine Erfahrung mit dem Götzen Mammon in Verbindung gebracht werden. Jedermann mußte erfahren, daß sein Reichtum ihn nicht ins Jenseits begleiten kann; er muß die Truhe mit seien Schätzen zurücklassen, denn ein altes Sprichwort besagt: „Das letzte Hemd hat keine Taschen.“
 

   Alfred Rethel, Totentanz (1848)

70 Jahre vor Hofmannsthals „Jedermann“ war „Die Judenbuche“ der Annette von Droste-Hülshoff, eine der bestbekannten und meistgedeuteten Novellen, erschienen, in der ebenfalls das Motiv der „Leichenhemden“ begegnet. Die auf einer wahren Begebenheit im „Paderbörnischen“ fußende Geschichte um Schuld und Sühne des jungen Friedrich Mergel sollte ursprünglich in eine Landschafts- und Sittenschilderung Westfalens integriert werden. Das erklärt den relativ breiten Raum, den die geradezu volkskundlich genauen Schilderungen alter Bräuche im Paderborner Land in der Novelle einnehmen, zum Beispiel die seitenlange Darstellung der Rituale einer bäuerlichen Hochzeit und deren wüste Feier im „Oktober 1760“. Kurz danach ist die Leiche eines erschlagenen Juden gefunden worden und Mergel vor dem Zugriff der Dorfpolizei geflüchtet, um erst nach 28 Jahren wieder zum Ort der Handlung zurückzukehren. Bis zu seiner Flucht lebte Mergel im Haus seiner verwitweten Mutter. Dieses wird vom Gutsherrn nach dem Verdächtigen und nach Spuren des Entflohenen durchsucht:
 
            „'Wo ist Friedrich?' fragte er […] 'Entwischt!', sagte der Gutsherr mit sehr gemischten Gefühlen […]. 'Gebt den Schlüssel zu jenem Koffer.`[...] Der Inhalt des Koffers kam zum Vorschein: des Entflohenen gute Sonntagskleider und seiner Mutter ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit schwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das andere für eine Frau gemacht.“
 
Es ist wohl deutlich, daß die Erzählerin auch hier auf die alte Sitte anspielt, daß eines jeden Totenhemd lebenslänglich bereit liegt. In der Regel wurde solch ein Hemd nicht in einem Kleiderschrank, sondern  - wie auch die Aussteuer einer künftigen Braut -  in einer Truhe aufbewahrt. In einer Vorfassung der Novelle hatte die Droste hier von einer „Kiste“ gesprochen, was auf die äußerst ärmlichen Verhältnisse im Haus der Witwe schließen läßt; das Motiv erscheint in der Endfassung noch radikaler: Die kümmerlichen Habseligkeiten der Mergels hatten in einem Koffer Platz, so wie es bis ins 20. Jahrhundert hinein auch Usus bei den Dienstmädchen war, die in ihrer Bodenkammer sozusagen 'aus dem Koffer' lebten, der sich dann auch bei allfälligen Stellenwechseln als praktisch erwies. In einigen der zahllosen Wort- und Sacherklärungen zur Novelle sind „Koffer“ und „Leichenhemden“ in diesem Sinn, wenn auch anscheinend nicht umfassend genug, erläutert.
 
Das hat jüngst zu einer sehr eigenwilligen Fehldeutung geführt (N. Mecklenburg: Der Fall „Judenbuche“): Der Koffer sei im Zusammenhang mit einem „gemeinsamen Selbstmordplan“ von Mutter und Sohn gezielt gepackt worden:
 
            „[...] allein das bereitlegend, was für ein […] ordentliches Begräbnis benötigt wird. So ersparen sie den Angehörigen oder Nachbarn die Pflicht, nötigenfalls Leichenhemden zu beschaffen.“
 
Damit sei der genaue Plan „für den verzweifelten gemeinsamen Schritt in die Todsünde, den Selbstmord, hinreichend dokumentiert.“ Auf solch unglaubliche Irrwege kann es führen, wenn man den hier angesprochenen Brauch, das Totenhemd immer in Reichweite bei sich zu haben, nicht kennt und dessen Erwähnung geradezu fälschlicherweise als Zeichen für einen geplanten Suizid deutet. Die Phantasie des Interpreten geht dann über die im Kunstwerk begegnenden Facta und Realia und deren Bedeutung hinweg. Der waghalsige Interpret aber meint, seine einzig wahre „Erkenntnis“ auch dadurch gewonnen zu haben, daß er alle früheren Erklärungen und Deutungen als „plumpes Hinwegtrampeln der wissenschaftlichen Interpreten“ abqualifiziert und ausgeblendet hat.
 
Früher stritten sich in Sagen, Märchen und Dichtungen, Diebe und Totengespenster um die Leichentücher, heute streiten die Interpreten über deren Bedeutung - offenbar ein zeitloses Thema.


©  Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018

Redaktion: Frank Becker