Seh-Reise (39)

Neununddreißigste Ausfahrt: Die Kallipygische Venus

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (39)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
39. Ausfahrt: Die Kallipygische Venus
 
Am liebsten nackt
 
Der wöchentlich geübte Zehnerschritt hat mir diesmal einen besonders aufregenden Gast in meiner Küche beschert. Es war von eigenem Reiz, beim Aufbrühen des Morgentees sieben Tage lang den Blick über die herrlichen Gesäßbacken dieser antiken Frauenskulptur gleiten lassen zu dürfen. Und es amüsierte mich, wenn ich zurückdachte an die Veitstänze des jungen Mannes in den Räumen des Nationalmuseums von Neapel. Wie ich, damals noch fotografierend, um die halbnackte Plastik herumgeschwänzelt war, um ihr mit meinem Gerät in sämtliche Ritzen zu dringen. Daß das ein heikles Gelände war zwischen verschiedenen Sinnlichkeiten, war mir natürlich auch seinerzeit schon bewußt gewesen, und mit dem älteren Museumswärter, der immer wieder mal en passant nachschauen kam, wie es um uns beide stand, hatte sich ein komplizenhaftes Augenzwinkern hergestellt, und damit überließ der Ältere mit seinem schmalen Oberlippenbärtchen den jüngeren Phantasten seinem Treiben. Darin sind italienische Saaldiener groß.
Und jetzt, nach Jahrzehnten, dieses Wiedersehen, in der Prosa alltäglicher Vollzüge. Wieder strahlt mich dieser vollkommen gerundete Frauenpo an, freigelegt, wie die Götter ihn geschaffen haben, als Augenfang, ohne jede störende Ablenkung. Die Kallipygische Venus, die Schönärschige. Fleisch und Blut wird gefeiert in Marmor. Die Augen des Betrachters, damals wie heute, greifen sie zärtlicher an, als Hände es je könnten. Es muß, meine ich, nicht der Blick eines Mannes sein, der sich an der schieren Schönheit dieses Körperteils erfreut.
In sämtlichen Kulturen unserer Welt bleibt das Gesäß lieber verhüllt. Es ist seit je die Schmuddelecke des menschlichen Organismus. Etwas von

Foto © Museo Nazionale di Napoli
Unreinheit haftet ihm an, als Pforte der Ausscheidung, und zugleich von sexueller Eindeutigkeit, als Verlockung zum Vereinigungsspiel. Mit beidem, dem Ausscheiden wie dem Begatten, tun sich alle Kulturen schwer, von Religionen ganz zu schweigen. Bilder davon werden lieber unter dem Tisch herumgereicht, mit feuchten Fingern. Daran haben bis heute auch sämtliche sexuellen Revolutionen wenig ändern können. Die Pornoindustrie mit ihren astronomischen Umsatzzahlen ist der schlagende Beweis. Und es gibt noch genug Regionen auf dem Erdkreis, in denen das Herumzeigen der Schönärschigen auch heute noch einem Todesurteil gleichkäme.
 
Der nackte menschliche Körper als Skandalon: Es war die griechisch-römische Antike gewesen, die seiner Schönheit sich weit geöffnet hat und ihn feierte, einerlei ob Mann oder Frau. Die Marmorstatue der Kallipygischen Venus stammt aus dem letzten vorchristlichen Jahrhundert, der Epoche des Augustus, als Rom sich zu einer Weltmacht rüstete. Aus den darniederliegenden Städten Griechenlands holten sich die reichen Römer ihre Kunst, ließen die Bronzeplastiken in Marmor nachbilden. Nach dem Untergang der Antike lag auch die Schönärschige lange im Bauschutt der Ewigen Stadt begraben und wurde erst im späten Mittelalter geborgen. Den Kopf hatte sie dabei eingebüßt, doch das süße Gesäß war ohne jede Schramme über die Jahrhunderte gekommen und erfreute die Menschen wie am ersten Tag. Ein Bildhauer des Barock ergänzte den verlorenen Kopf, und er tat das ausgesprochen geschickt. Die Drehung des Kopfes, seine Rückwärtswendung, hinab aufs eigene Gesäß, lenkt den Blick des Betrachters auf das Zentrum der Plastik: diese beiden göttlichen Backen. Er braucht nur dem vorgegebenen Blick der sich selbst genießenden Frau zu folgen. Die Schwarz-Weiß-Fotographie des zwanzigsten Jahrhunderts, im Widerspiel von Licht und Schatten, betont noch einmal die sinnliche Qualität des antiken Standbildes.
Die ideale Aufstellung fand die Kallipygische Venus bald nach ihrer späten Wiederentdeckung im Palast der römischen Familie Farnese. Sie stand in der Mitte des „Saals der Philosophen“, umgeben von achtzehn Statuen antiker Philosophen. Greise naturgemäß. „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendige.“ Und zwar nackt.
 

Die Kallipygische Venus, Marmor. Rom, erstes Jahrhundert vor Christus - Nationalmuseum Neapel
 

Redaktion: Frank Becker