Deutsche Einheit: Reden wir über die innere Spaltung

Ein Kommentar

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Deutsche Einheit:
Reden wir über die innere Spaltung
 
Von Ulli Tückmantel
 
Wenn man es auf Italienisch sagt, klingt es gleich netter: „Risorgimento“ heißt dort die staatliche Einigung, die 1871 parallel zur deutschen Reichsgründung erfolgte - und auch nach rund 150 Jahren immer noch nicht unproblematisch ist. Unser Nachbarland Polen hat gleich vier Teilungen in seiner Geschichte erlebt und ist bis heute davon geprägt, daß es lange eine Nation ohne Staat war. Daß viele Deutsche heute den Eindruck haben, zwar ein Staat, aber nicht wirklich eine Nation zu sein, müßte daher nur 28 Jahre nach der Wiedervereinigung kein Grund zur Aufregung sein. Oder doch?
  Wie tief gespalten das Land sich empfindet, schlägt unfreiwillig noch bis in den Titel der Berliner Einheitsfeiern durch, die bereits, am 1. Oktober begonnen haben: „Nur mit euch“ ist das Fest überschrieben, bei dem das Land NRW Currywurst aus Bochum, Kuchen von der Bergischen Kaffeetafel, drei Sorten Bier und Holzschweinchen als Schlüsselanhänger aus dem „Knastladen“ der hiesigen Justizvollzugsanstalten verteilt (während die Feier in NRW wie jedes Jahr nicht stattfindet). „Nur mit euch“ bedeutet unfreiwillig: Es gibt außer „euch“ auch ein „uns“, das hier spricht. Es sagt: „Ihr“ seid nicht „wir“. „Ihr“ dürft bloß mitfeiern.
 Diese Spaltung in „ihr“ und „wir“ ist nicht nur eine Frage von Ost und West. Es ist auch eine von „hier geboren“ oder „zugewandert“, eine von oben und unten - und nicht zuletzt verläuft ein Riß zunehmend zwischen Wählern und Gewählten, zwischen Regierten und Regierenden. Dabei richtet sich der Blick häufig auf den Osten, wo zumindest laut Umfragen das Empfinden der Spaltung unabhängig von der politischen Ausrichtung weit stärker ausgeprägt ist als im Westen.
  Während Menschen im Osten einen zunehmend öffentlich und politisch beachteten Mangel an Aufmerksamkeit und Wertschätzung beklagen, steigt im Westen gefühlt das (noch) nicht besonders offen ausgesprochene Unverständnis darüber, dass die Jammerei auch nach 28 Jahren üppiger Alimentierung nicht endet und schließlich der Osten dem Westen beigetreten ist, ohne jemals wirklich in der offenen, freiheitlichen Gesellschaft angekommen zu sein.
  Stimmungsgewinner all dieser inneren Spaltungen sind ausschließlich die, die sie weiter vorantreiben - als gäbe es keine echten Herausforderungen und Zukunftsaufgaben und als könne man diese weiter auf die lange Bank schieben und alle grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikte (Wohnen, Rente, Gesundheit) in Koalitions-Kompromissen bis zur Auflösung verwässern. Die Parteien der Mitte müssen aufhören, vom Zuhören und der Erneuerung immer nur zu reden. In klarer deutscher Prosa: „Ihr“ müßt machen!
 
 
 
Der Kommentar erschien am 3. Oktober 2018 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.