Geht doch!

von Karl Otto Mühl

Foto © www.JenaFoto24.de / pixelio.de
Geht doch!
 
Da war doch kürzlich diese Diskussion darüber, was Armut sei und ob man mit einem bestimmten Betrag zurechtkommen könnte. Hartz IV-Empfänger haben darüber nur die Köpfe geschüttelt. Es ist doch längst klar, daß es in Deutschland keine Armut geben kann, wenn sie mit ihrem Einkommen der untersten Kategorie mit Bravour auskommen. Den Beweis werde ich gleich liefern. Und jetzt meine ich es Ernst – der nachfolgende Textauszug stammt Wort für Wort aus den Tagebuchaufzeichnungen eines Hartz IV-Empfängers, den ich kenne.
 
„Wie kann man mit wenig Geld in der Tasche viel erreichen? Der Mensch ist sehr anpassungsfähig. Wenn er sich einmal hinsetzt, nachdenkt, dann findet er zwangsläufig immer noch Einsparpotentiale. Unternehmen agieren ähnlich. Sie neigen dazu stets, die Personalkosten zu reduzieren. Personalkosten fielen in meiner Situation nicht an. In der Vergangenheit hatte ich an den Fixkosten angesetzt. 2009 verabschiedete ich mich vom ÖPNV Wuppertal. Von da an erledigte ich alle Wege bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad. Körperliche Fitness war ein willkommener Nebeneffekt, zumal ich hier auf dem Weg zu meiner Wohnung eine 300 Meter lange Steigung mit etwa 9% zu nehmen hatte. Über die Jahre hatte ich gut 2500mal die Steigung gemeistert. Ohne Nutzung der Busse konnte ich auf diesem Weg monatlich 35 Euro einsparen. Also, geht doch! Gereicht hat das aber nicht.
 
Um über die Runden zu kommen, warf ich einen Blick auf meine Strom- und Gaskosten. Auch hier sollten Einsparungen möglich sein. Die Etagenheizung meiner Wohnung ist mit einer gut funktionierenden Gastherme ausgestattet, war aber energetisch betrachtet nicht effektiv. Das lag auch an den Fenstern der Wohnung, die in die Jahre gekommen waren. Es zog an allen Ecken und Enden. Im ersten Schritt brachte ich an den Fenstern Vorhänge an. Dann ging ich dazu über, ab Ende Oktober mit Kerzen und Teelichtern zu heizen. Man muß wissen, daß eine Kerze etwa 100 Watt Wärmeleistung bietet, ein Teelicht bringt es auf 40 Watt. Haushaltskerzen brennen etwa 6 Stunden, Teelichter erreichen vier Stunden. Für die Teelichter baute ich mir einige Stellvorrichtungen, auf denen ich Wasser erwärmen konnte. Das „Teelichtmanagement“ kann man auch auf die Spitze treiben. Gesagt, getan! Teelichtern ist es eigen, daß sie nie restlos abbrennen. Also das Teelicht erkalten lassen und dann mittels Daumen- und Zeigefingerdruck auf die Weißblecheinfassung die Talgreste lösen. Mit den so gewonnenen Restmengen ein brennendes Teelicht beschicken. Materialausbeute dann bei 100 %. So deckte ich meinen Warmwasserbedarf ab, für Spülen, Treppeputzen, Kochvorbereitungen, Wärmflasche und das ein oder andere Fußbad im Winter. Also, geht doch! An kalten Wintertagen zog ich mich entsprechend warm an und die meiste Zeit verbrachte ich in meiner Küche, die in südlicher Ausrichtung kein Energiefresser war. Warm gekleidet reicht eine Raumtemperatur von 18,5°C. Genau in diesem Moment, wo ich diese Zeilen schreibe, sehe ich die 18,5° C auf meinem Raumthermometer.
 
Weitere Einsparpotentiale ergaben sich im Bereich der Ernährung. Meinen Joghurt bereite ich seit mehr als 25 Jahren selbst zu. Mehrere tausend Joghurtbecher sind so als Müll erst gar nicht angefallen. Seit mehr als 10 Jahren esse ich nur mein selbstgebackenes Brot. Zweimal im Monat gönne ich mir einen schmackhaften Eintopf, wobei ich für zwei Tage koche und 5 Mahlzeiten einfriere. Diese werden selbstverständlich auf Teelichtern erwärmt. Über Hartz IV habe ich mich tatsächlich zu einem Energiesparer und -optimierer gemausert. Wenn wir dem Klimawandel begegnen wollen, dann kann die Lösung nur heißen: Hartz IV für alle! Mein monatlicher Stromverbrauch bewegt sich seit Jahren bei 70 Kw. Der Gasverbrauch bei 0 Kw. Ich vermute daher, daß ich bei den Wuppertaler Stadtwerken nicht der Umsatzbringer bin. Unter den Energiesparern und Ökoanhängern dürfte ich jedoch einen der vorderen Plätze belegen. Mein ganz persönlicher CO2-Fußabdruck kann sich sehen lassen. Mehr Einsparmöglichkeiten sehe ich nicht. Doch ich habe noch eine. Wenn ich eine dicke Kerze abbrennen lasse, passe ich den Augenblick ab, wo sich am oberen Rand beim Aufweichen eine Bruchstelle zu bilden beginnt. In diesem Augenblick lösche ich die Kerze vorübergehend, damit sich alles wieder erhärtet. Mit einem Taschenmesser löse ich den erkalteten Rand ab. Danach zünde ich die Kerze wieder an und füge in kleinen Portionen die abgeschnittenen Bröckchen der Kerze von oben wieder zu. So sichere ich ein verlustfreies Abbrennen der Kerze.
Da ich allein lebe, habe ich gelernt, mich mit der Situation zu arrangieren.“
 
Soeben war er wieder bei mir, der Lebenskünstler. Er ist wirklich eine Ausnahme.
Es wird den Minister für Soziales freuen, daß sein Schützling frisch, aktiv und guten Mutes ist. Durch gelegentliches Treppenputzen und ein paar Gartenhilfsarbeiten hat er sich ein paar hundert EURO zusätzlich verdient (unter Wahrung der gesetzlich erlaubten Hinzuverdienstgrenze) und hat sich ein Keyboard gekauft. Jetzt macht er täglich Musik, vernachlässigt aber auch nicht sein tägliches Pensum an Sprachstudien.
 
Warum hat er bei all diesen Fähigkeiten keinen Job? Das habe ich mich mehrfach gefragt.
Ich glaube, er ist ein bißchen zu gut für diese Welt und als ob er diesen Satz gelesen hätte, berichtet er mir heute, daß er in der Stadt einem Straßenzeitungsverkäufer 5 Euro gegeben habe. „Die am wenigsten haben“, sagte der, „die geben am meisten“.
 
 
© Karl Otto Mühl, 10.10.2018