Der alte Mann und die Bombe
Es war der 8. April 2018. Der alte Mann schaute aus dem Fenster. Die Straße war leer, kein Auto parkte vor dem Bürgersteig. Wo waren alle? Auch er mußte bis um 12:00 Uhr sein Haus verlassen haben. Er hatte es zuerst von Frau Hermisch gehört, daß im Peter-Hille-Weg eine Bombe gefunden worden war. „Eine Bombe“, sagte Frau Hermisch. „Wer wirft denn mit sowas herum?“ Sein Nachbar Herr Wollschon kannte sich mit Bomben aus: „Das ist eine „HC 4000“ flüsterte er und streichelte den Hund des alten Mannes. „Eine sogenannte „Wohnblockknackerin“. Der alte Mann schüttelte den Kopf. Wie kann man sich nur mit Bomben auskennen. Er wußte noch nicht mal, auf welchem Platz der Bundesliga gerade der SC Paderborn stand. „Eine Bombe hat uns noch gefehlt“, sagte Herr Wollschon. „Die haben sogar schon das Brüderkrankenhaus evakuiert.“ Der alte Mann hatte davon in der Zeitung gelesen. Das Krankenhaus stand zum ersten Mal in seiner 115-jährigen Geschichte leer da, und keiner wußte wie man es abschließt oder das Licht ausmacht. Auch die ganze Südstadt sollte an diesem Sonntag geräumt werden. 26.000 Menschen mußten ihre Häuser und Wohnungen verlassen und schon vorher umkreisten Hubschrauber die Siedlung, um die ganze Aktion zu überwachen.
Der alte Mann war schon mit seinem Hund spazieren gegangen. Die Sonne schien und es war ein strahlend schöner Tag. Er hatte eine kleine Runde auf dem Monte Scherbelino gedreht und war durch die Anlage des Kleingartenvereins zurück gegangen. Überall war es so gespenstisch leer, daß er fast erleichtert war, als die Kolonne der roten und blauen Fahrzeuge von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk über die Giselastraße zum Südring fuhr. Er hatte dort gestern noch mit einem Mann in der Dönerbude gesprochen. „Wenn wir Pech haben, ist hier morgen alles weg“, hatte der türkische Imbißverkäufer gesagt. Der alte Mann nickte. Man sah plötzlich die Südstadt und ihre Bewohner mit anderen Augen. Die einzige, die die Explosion überleben würde, würde sicherlich die Südstadtmilbe sein. Die überlebte alles.
Der alte Mann stand in seinem Wohnzimmer und ging in Gedanken durch, was er zu erledigen hatte. Die Behörden hatten geraten, wichtige persönliche Dokumente mitzunehmen, wie zum Beispiel Personalausweis, Führerschein oder medizinische Unterlagen. Der alte Mann lachte. Er wußte gar nicht, wo er das alles aufbewahrte. Was brauchte man denn wirklich zum Weiterleben? Was wollte er vor der Zerstörung bewahren? Er hatte überlegt, ob er das wertvolle Weyher-Bierglas vom 150 jährigen Gaststätten-Jubiläum mitnehmen sollte. Er hing auch an der großen Heinrichsdorff-Kaffeetasse, die 2011 zum 100 jährigen Festjahr ausgegeben worden war. Er hatte auch noch den original Jubiläums-Regenschirm des Modehaus Klingenthal, den man in Paderborn immer gut gebrauchen konnte. Besonders stolz war er aber auf die vollständige Ausgabe der Kirchenzeitung „Der Dom“, die er von der der Erstausgabe 1946 bis heute gesammelt hatte. Was sollte ihn an sein früheres Leben erinnern, wenn plötzlich alles verschwunden war?
Er schaute aus dem Fenster und sah, wie sein Nachbar seinen Mülleimer rausstellte. Am nächsten Tag, am Montag, wurde in der Straße immer der Müll abgeholt. „Das ist verdammt cool“, entfuhr es ihm. So war der Paderborner, wenn der letzte Tag seines Lebens angebrochen war, dann würde er immer noch daran denken, daß er seinen Mülleimer rausstellen mußte, um nachfolgenden Generationen die Sorge um seinen Müll abzunehmen. Der alte Mann nickte. Er wußte auf einmal, was er von seinem vorherigen Leben bei sich haben wollte. Er nahm seinen Hund mit und vergaß auch nicht dessen Lieblingsball. Alles andere würde sich finden.
© 2018 Erwin Grosche
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