Seh-Reise (45)

Fünfundvierzigste Ausfahrt: Ludwig Richter

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (45)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
45. Ausfahrt: Ludwig Richter
 

Biedermeierliche Pastete
 
Du meine Güte, was hab ich heute für ‘nen Kitsch erwischt! Diese buttergelbe Sonnenuntergangs-Soße. Da tun einem ja die Augen weh …
Auch die Erinnerung daran, daß die gleiche Karte (eben sie!) einst vor mir auf dem Schulpult gelegen hat, damit der Quartaner darüber eine Bildbeschreibung anfertige, als Schulaufsatz, stimmte mein Urteil kaum milder. Klar. Dergleichen Gefühlssülze war ganz nach dem Gusto der Pauker gewesen seinerzeit.
Und dann hing dat Dingen eine Woche lang in der Küche des abtrünnig gewordenen Quartaners und besonnte allmorgendlich seine Teeaufgüsse. Doch zu meiner Verwunderung: der Sonnenuntergang über der Elbe tat mir gut. Er wärmte meine Stimmung an, bevor es an den Schreibtisch ging. Nach zwei, drei Tagen war mir die Moquerie gänzlich abhanden gekommen, und ohne jede Reue freute ich mich jetzt an dem Bild. Die Romantik mag zwar mitunter eine Delle zum Kitsch haben. Aber etwas Tröstendes, die Kraft, mit dem Alltag zu versöhnen, geht fast immer von ihr aus (wenn man’s denn zuläßt).

 

Die „Überfahrt am Schreckenstein“ stammt von Ludwig Richter, einem der populärsten Maler seiner Zeit in Deutschland. 1837 gemalt, hat es einen Ton der „deutschen Volksseele“ getroffen, der lange nachgehallt hat, mindestens bis in meine Kindheit hinein. Der Dresdner Maler hat seinen Pinsel tief die Stimmungslage des deutschen Bürgertums eingetaucht, die die seine gewesen sein muß, in ungebrochener Sicherheit. Die Lehrzeit als Maler hat er in Italien verbracht, und in der Schönheit dieser Landschaft herumwandernd, ist ihm die romantische Verklärung der Natur und des Menschen in ihr zugewachsen. Der Süden, mit jugendlicher Begeisterung eingesogen, wurde ihm zeitlebens zum Ideal und Maßstab seiner Kunst.
Die Sehnsucht des Wanderns zieht durch das Bild von der „Überfahrt am Schreckenstein“. Mitgenommen in ein Boot, im Glück der Blauen Stunde zwischen Tag und Abend, eingebettet in eine bukolische Landschaft, verliert der Betrachter jede Erinnerung an die Sorgen seines Alltags. Seine Reisefährten sind verzauberte, im Sinnen erstarrte Gestalten, durch alle Generationen: vom Kleinkind vorn, das mit den Wellen spielt, bis zum Greis mit Pfeife, dem rudernden Fährmann im Heck. Die Muße des Feierabends vereint sie, aber jeder bleibt dabei für sich, allein mit dem Geschenk schöner Natur: die junge Bäuerin mit ihrem Rechen, die Grünzeug ans andere Ufer bringt. Das Liebespaar, in trauter Umarmung. Der sinnende Jüngling und der Sänger im weißen Gelock, der in die Saiten seiner Harfe greift und die Gesellschaft mit einer leisen Weise unterhält. Vereint sind sie, jeder für sich, im Schweigen, Nachdenken, Lauschen der Musik, dem Eintauchen des Ruders ins Wasser.
Als zentrale Figur der Gruppe steht der Wanderer in der Mitte des Bootes, mit Wanderstab und Rucksack („Felleisen“). Er ist der einzige, der sich nicht selbstvergessen der vorabendlichen Stimmung überläßt. Denn er hat ein Ziel vor Augen, wo er hin will: die Burg oben am Berg. Er nimmt den Blick des Betrachters mit sich hinaus in die Landschaft, auf die felsige Höhe mit der Ruine des Mittelalters, die blauen Bergkegel in der Ferne. Mit einem Bein bereits auf dem Bootsrand stehend, als könne er es nicht erwarten, endlich loszuziehen, weiter und weiter zu den anderen Burgen, ganz ungestört seinen eigenen Träumen und Phantasien überlassen.
Ein Traumbild in Schweigen. Ein versonnenes Seelengemälde, jenseits von Zeit und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ein Stillleben mit acht Personen. Dazu noch unter dem Rundbogen in einen allgemeineren (göttlichen?) Zusammenhang hineingestellt.
 
So schwer es mir nach ein paar Tagen fällt, mich der Suggestion dieses poetisch eingefrorenen Augenblicks wieder zu entziehen: Die Malweise Ludwig Richters verrät den Anachronismus seiner Bildanlage, das durch und durch Sterile seines Stils.
Die statuarisch nebeneinander aufgereihten acht Figuren sind vollkommen leblos. Sie sind nicht von der Natur abgenommen, sondern von gemalten Vorbildern, wie man sie aus den Galerien der Biedermeierzeit und später kennt. Die „Jungfer“ mit dem Rechen, das Liebespaar, der nachsinnende Jüngling, der weißgelockte Barde – für mich stammen sie mit einiger Sicherheit aus den Musterbüchern, wie sie einem Maler der Zeit Ludwig Richters zur Verfügung standen. Sie sind nicht gemalt – sie sind abgemalt.
Bei genauem Hinschauen entlarvt sich die Gruppe im Boot auf der Elbe als ein Pasticcio vorgefertigter Bilder aus dem Formenvorrat des Biedermeiers. Die romantische Vorabend-Elegie ist höchst synthetisch fabriziert. Jedes lebendige Leben ist ihr ausgetrieben.
Dennoch: Die wärmende Wirkung dieses machtvollen Sonnenuntergangs, die ich eine Woche von dem Bild empfing, ist damit nicht widerrufen. Man darf sich den Taschenspielereien der Künstler schon mal überlassen und den Lästerhans in sich zum Schweigen bringen. Wenn ich mir allerdings vorstelle, daß Ludwig Richter mit seinen Illustrationen der Musäus’schen „Volksmärchen“ in nahezu jedem bürgerlichen Haushalt zugegen war und das Bild der Wirklichkeit von Generationen deutscher Kinder prägte, kann man dann doch wieder in ein eher unromantisches Grübeln fallen …
 
Ludwig Richter, Überfahrt am Schreckenstein, Öl auf Leinwand, 117 x 157 cm , 1837 - Staatliche Kunstsammlungen Dresden
 
Redaktion: Frank Becker