Spazieren muß ich unbedingt

Der Flaneur – Ausstellung im Kunstmuseum Bonn

von Frank Becker/Red.

August Macke, Frau mit Sonnenschirm vor Hutladen, 1914
Spazieren muß ich unbedingt
 
Der Flaneur
Vom Impressionismus bis zur Gegenwart
Noch bis 13.01.2019 im Kunstmuseum Bonn
 
Eine Einladung zum Glück, das draußen, im Freien liegt.
Die gemächliche Gangart des Müßiggehens wird zum
Anfang der Weisheit.
„Denn das ist der Witz beim Spazierengehen, daß dir alles
Bekannte neu und alles Neue bekannt vorkommt.“
(Sigismund von Radecki)
 
Mit der zunehmenden Beschleunigung unseres Alltags entsteht im Gegenzug der Wunsch nach Müßiggang und Zeit zur Reflexion. Vor diesem Hintergrund wird gerade heute die Figur des Flaneurs aktueller denn je. Das langsame Flanieren und fließende Sehen des Flaneurs stehen in starkem Kontrast zu der getakteten Zweckgerichtetheit unseres Tuns und der Hektik mancher Bewegung.
Das zunächst literarisch angelegte Motiv des Flaneurs (vgl. „Spazieren muß ich unbedingt“, Herder 1990, hrsg. von Axel Dornemann) ist eng mit der urbanen Umgebung verbunden. Friedrich Hölderlin und Karl Philipp Moritz haben sich dazu ausgelassen, ebenso Theodor Fontane und Robert Walser, Friedrich Rückert und Hanns Dieter Hüsch, Johann Gottfried Seume und Günter Kunert. Der Flaneur ist das Auge der Stadt, das auf die Stadt schaut und durch das die Stadt auf sich schaut. Der schweifende Blick dieser einzelnen Figur, die ziellos über Straßen und Plätze streift und Eindrücke sammelt, erweist sich als adäquate Wahrnehmung des flüchtig instabilen Organismus der Großstadt seit Beginn der Moderne. Entsprechend verfolgt die Ausstellung im Kunstmuseum Bonn ihr Thema nicht nur aus einer historischen Perspektive, sondern entwickelt es mit zahlreichen, auch fotografischen Beispielen bis in die Gegenwart.
 

Ernst Ludwig Kirchner, Straßenszene, 1926, Aquarell

Die Ausstellung folgt dem Weg des Flaneurs durch einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert. Impressionismus, Expressionismus und Neue Sachlichkeit zeigen Paris und Berlin als das erste Terrain des Flaneurs. Seit den 1930er Jahren ist die Fotografie ebenfalls ein zentrales Medium der Erfahrung des Urbanen. In der Gegenwart nutzen Künstler – neben Malerei und Fotografie – Performance, Film und Audiowalk, um die dynamischen Strukturen der Stadt zu erfahren und zu bestimmen.
Das umfangreiche Ausstellungsprojekt umfaßt mehr als 160 Werke von 65 Künstlerinnen und Künstlern.
Zahlreiche internationale und nationale Museen und Privatsammlungen (u.a. Musée d´Orsay, Paris; Tate, London; Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid) unterstützen die Ausstellung mit wichtigen Leihgaben.
Die Ausstellung wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes und der Hans Fries-Stiftung, Köln. Medienpartner sind das Monopol Magazin, der General-Anzeiger Bonn sowie das Kunstforum international.
 
 
 Rudolf Schlichter, Hausvogteiplatz, um 1926, Aquarell

Ausgestellte Künstler: Louis Abel-Truchet, Franz Ackermann, Francis Alÿs, Louis Anquetin, Jean Béraud, Brassaï, Koen vand den Broek,  Auguste Chabaud, Lovis Corinth, Koen van den Broek, Gustave Dennery, Robert Doisenau, Max Ernst, Henri Evenepoel, Lyonel Feininger, Rainer Fetting, Lee Friedlander, André Gill, Vincent van Gogh, George Grosz, Werner Heldt, Karl Horst Hödicke, Candida Höfer, Sofia Hultén, André Kertész, Kimsooja, Ernst Ludwig Kirchner, Mark Lewis, Max Liebermann, Luigi Loir, August Macke, Albert Marquet, Ludwig Meidner, Adolph von Menzel, Helmut Middendorf, Tod Papageorge , Ludovic Piette, Peter Piller, Camille Pissarro, Sigmar Polke, Franz Radziwill, Anton Räderscheidt, Jean-Francois Raffaëlli, Alexander Roob, Alexander Rodtschenko, Christoph Rütimann, Carl Saltzmann, August Sander, Franz Skarbina, Rudolf Schlichter, Friedrich Seidenstücker, Stephen Shore, Alfred Sisley, Léon Spilliaert, Johanna Steindorf, Otto Steinert, Alfred Stieglitz, Beat Streuli, Thomas Struth, Umbo, Maurice Utrillo, Jeff Wall, Corinne Wasmuht, Garry Winogrand, Gustav Wunderwald.


Thomas Struth, Art Institute of Chicago 2, 1990, C-Print

Der flaneurhafte Blick auf die Stadt, das zentrale Thema der Bonner Schau ist natürlich auch der Kern des bei Wienand erschienenen Katalogs. Der Mann (oder die Frau) streift scheinbar ziellos, mit Zeit und Muße durch die Straßen und sammelt Eindrücke einer nie still stehenden urbanen Umgebung. Der elegante Müßiggang eines Flaneurs im Paris oder Berlin des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, eingefangen in Werken von Impressionismus, Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, ist in der modernen Großstadt, zumal durch den fatalen Einfluß des Smartphones, das die Menschen mit gesenktem Blick durch die Stadt treibt, nahezu verloren gegangen. Auch die Hektik des in irrwitzig schnelle Clips zerstückelten Filmbildes trägt seinen Anteil dazu bei. Dennoch lebt die Wechselbeziehung von Spaziergänger und Stadt im sich schneller drehenden Karussell der Metropolen des 20. und 21. Jahrhunderts glücklicherweise weiter und ist trotz allem in Kunst und Fotografie bis in die
Gegenwart präsent.

 
Der Flaneur – Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Bonn (Katalog)
Hg. Volker Adolphs und Stephan Berg
Mit umfangreichen Text-Beiträgen von Volker Adolphs, Stephan Berg, Barbara Hofmann-Johnson, Maïté Metz, Hans-Joachim Müller, Maximilian Rauschenbach und Alexander Roob

© 2018 Wienand Verlag, 344 Seiten, gebunden, 24 x 30 cm, 173 farbige Abb., 76 s/w Abb.
gebunden  - ISBN: 978-3-86832-481-5
39,80 € / 51,70 sFr