Der Vollquatscher
Der Vollquatscher quatscht in Dauerschleife. Keiner entgeht seinem Redefluß. Unter dem Deckmäntelchen der Kontaktfreudigkeit quatscht er alles in Grund und Boden, was sich ihm wehrlos zugewandt hat. Wo er gequatscht hat, wächst kein Gras mehr, geschweige denn entsteht ein Gespräch. „Habe ich ihnen schon erzählt, wie ich meinen Hund bekommen habe?“ Ja, hat er. Tausendmal hat er erzählt, wie er seinen Hund bekommen hat, aber das war schon beim ersten Mal so langweilig, daß alle später diese Geschichte in vier Flaschen Wein ertränken mußten, um wieder ein Ohr zu haben für das leidenschaftliche Gespräch unter sich liebenden Menschen.
Der Vollquatscher ist gnadenlos. Muß er denn nie Luft holen? Er quatscht alles so voll, daß wir eine Ahnung davon bekommen, was zu lange Predigten mit Menschen machen können. Ihm ist es egal, wie alle die Augen verdrehen, die Welt aufstöhnt und sich der Tag in die Nacht verwandelt. Kinder werden geboren, kommen in den Kindergarten, werden eingeschult, studieren, arbeiten in ihrer Freizeit als Bedienungskraft, und keiner hat sie je darauf vorbereitet, was es mit einem macht, wenn man so schonungslos beim Servieren eines Kaffees vollgelabert wird. „Laber, laber, aber, aber, keiner stoppt den Redefluß, laber, laber, aber, aber, wann ist damit endlich Schluß?“ Bei des Vollquatschers Litaneien vergeht die Zeit, die Blätter werden welk und der Kaffee auf dem Tablett wird kalt und „kann mal passieren“ zurück gegeben. „Kann ich noch einen haben?“ Nein, nun beginnt alles wieder von vorn.
„Habe ich ihnen schon erzählt, wie ich meinen Hund bekommen habe?“ Nein! „Oh, halte ich sie auf? Das tut mir leid. Seitdem ich im Ruhestand bin und einen Hund habe, nehme ich mir immer Zeit für meinen Nächsten und bin ganz offen für ein ehrliches Gespräch.“ – „Hallo, das heißt Ruhestand. Ruhestand!“ Man weiß so wenig von einander. Man huscht am anderen vorbei, als wären wir Schattenwesen. Nun habe ich Zeit und kann alles so genießen. Ich hätte nie gedacht, daß ich mal so kommunikativ sein könnte. Wenn das meine Frau mitbekommen hätte, sie wäre erstaunt. Sie hat sich immer so beklagt, daß ich so introvertiert sei und nichts aus mir heraus bekäme. Was war ich doch vorher immer im Stress gewesen. Tagein, tagaus, nur hetzen und dalli dalli, gnadenlos. Da blieb nie Zeit für ein Gespräch, für ein Kennenlernen, für eine Atempause. Am liebsten würde ich im Selbstmordschutzprogramm arbeiten. Habe ich erzählt, daß ich schwindelfrei bin? Gebt mir einen Lebensmüden, den ich vom Sprung vom Dach abhalten kann. Laßt mich mit ihm reden. Ich habe die Zeit und die Argumente für ein sinnvolles Leben. Ich könnte dem Lebensmüden das Gefühl geben, daß er der ideale Zuhörer ist. Ich könnte jemandem, der auf dem Dach steht, von der Schönheit des Lebens erzählen und daß man nur jemanden braucht, der einen Hund hat und Verständnis für seine Mitmenschen aufbringen kann. Ich könnte ihm auch erzählen, wie ich meinen Hund bekommen habe.“ „Laber, laber, aber, aber, keiner stoppt den Redefluß, laber, laber, aber, aber, wann ist damit endlich Schluß?“
Er hatte mal einer Frau eine derart langen Liebesmonolog halten, daß sie ihn schon beinahe verlassen hätte, als sie noch gar nicht zusammen gewesen waren. Ich hätte dich schon nach dem ersten „Ich liebe Dich“ geküßt, sagte sie später. Er hätte sich den Rest, den ganzen Sermon, sparen können. Am meisten macht es natürlich Spaß mit denen zu reden, die am wenigsten Zeit haben. Es ist nicht einfach, ihnen die kostbaren Redeminuten abzutrotzen. Wie hat er grade den jungen Mann, der ihm den Kaffee gebracht hat, vollgequatscht. Der mußte nämlich eigentlich die Wäsche von der Reinigung abholen. Was meinst du, was bei ihm zu Hause los ist, wenn er ohne die Wäsche nach Hause kommt? Da wird seine Frau große Augen machen. Soll er dann sagen, er habe dich getroffen, und du hättest so traurig ausgesehen, weil dich gerade deine Frau verlassen hat? Das ist ihr doch egal. Sie will ihre Wäsche von der Reinigung haben. Da muß man dem Mann was bieten. Da ist der ganze Alltagsentertainer gefragt. Und dann quatschst du los. „Laber, laber, aber, aber, keiner stoppt den Redefluß, laber, laber, aber, aber, wann ist damit endlich Schluß?“
© Erwin Grosche
Aus: Grosches Weltlexikon
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