Ein Schwanengesang

„Natur!“ - John Burnside (Hrsg.)

von Frank Becker

Ein Schwanengesang
 
Entdecken wir die Natur gerade jetzt neu, weil wir beschämt sind, sie längst so nachhaltig zerstört zu haben, daß auf eine vernünftige Zurückführung auf einen Stand der Vernunft keine Hoffnung mehr besteht? Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, sagt eine euphemistische Wendung, doch wird die Natur bis dahin unter dem Wirken des Menschen zugrunde gegangen sein. Henry D. Thoreaus „Walden oder Hüttenleben im Walde“ erlebt eine Wiederauferstehung nach der anderen, Walt Whitmans Amerika-Opus „Grashalme“ mit seinen vielen Naturbildern feiert fröhliche Urständ´, Bücher über alte Obst- und Gemüsesorten, über aussterbende heimische Pflanzen und Tiere füllen die Regale der Sortimenter, und kürzlich merkte ein Kommentar an, daß auch die Insekten jeglicher Art hierzulande vom Aussterben bedroht sind. Erinnern Sie sich noch daran, als Sie nach einer langen Autobahnfahrt kaum noch die Frontscheibe sauber bekamen, nicht einmal mit dem an jeder Tankstelle vorgehaltenen Insektenschwamm? Kürzlich fuhr ich neun Stunden auf der Autobahn: Kein zerquetschtes Insekt auf der Frontscheibe und an der Tankstelle kein Kratzschwamm.
 
Ist also die Herausgabe einer Gedicht-Anthologie zum Lob der Natur ein ängstliches Pfeifen im Walde, ein melancholischer Abgesang, ein letzter trotziger Gruß? Wie auch immer: Der Canossa-Gang kommt zu spät, denn sehenden Auges leugnet die Politik, allen voran mächtige Führer wie der kreuzdumme Donald Trump, den Klimawandel, und die Wirtschaft wird um des schieren Gewinns willen die Böden und Gewässer weiter mit Pestiziden vergiften, sie im Plastik ersticken, man wird weiter die Luft mit dem Treibstoff von Abertausenden Flugzeugen und endlosen Lastwagen-Karwanen sowie dem Schweröl gigantischer Kreuzfahrtschiffe verpesten, die zudem die Meere und die Häfen enorm schädigen. Wiesen und Wälder werden für Monokulturen planiert, letzte Grünflächen für Straßen- und Städtebau versiegelt, Pflanzen und Tiere vertrieben. Die Natur wird als lästige Nebenerscheinung an den Rand gedrängt…
 
 „Von Gräsern, Nüssen und Fliegen“ beschreibt John Burnside im von Bernhard Robben (der auch Burnsides Beitrag Mondlicht, Wolf übertragen hat) aus dem Englischen übersetzten Vorwort seine internationale Auswahl. Der Verlag nennt sie die schönsten Naturgedichte der Welt. – und stellt fest: „Selten stand die Natur so sehr im Fokus staunender Neugier wie heute.“  Warum wohl? – Siehe oben.
Nun ja, das mit dem Schönsten ist wie so vieles im Leben und natürlich auch in der Literatur subjektiv, also Ansichtssache. Burnside hat 100 Gedichte aus 17 Sprachen, mehr als 20 Ländern und quer durch die Geschichte für diesen Band zusammengetragen: von Horaz‘ vorchristlichen Oden über die Seelenlandschaft deutscher Romantik bis hin zu moderner Ökopoesie. Nun ist es einsehbar recht schwer, aus Dutzenden dichtender Kulturen und 17 Sprachen eine gültige Auswahl zu treffen. Wer Lyrik liest, weiß um den unüberschaubaren Schatz an Gedichten rund um die Welt. John Burnside hat dem englischen Sprachraum den Vorzug gegeben und z.B. nur ein einziges Gedicht aus dem Chinesischen – von Tu Fu - aufgenommen, einer Kultur, die eine der ältesten lyrischen Traditionen der Welt hat. Auch Japans große lyrische Überlieferung kommt mit einem wunderschönen Gedicht von Yosa Buson Drei Lieder vom Fluß Yodo zu kurz. Die Auswahl deutscher Gedichte zeigt Burnsides Blick: Trakl, Rilke, Goethe, Hölderlin, Celan, Walther, Albrecht Haushofer, Benn, Bachmann, Jürgen Becker, Jan Wagner – letzterer wohl mit dem feinen, vergnüglichen Gedicht „quittenpastete“ als Lohn fürs Übersetzen.
 
Allerdings öffnet die notwendigerweise knappe Auswahl doch einige dankenswerte Fensterschauen auf die Dichtungen unserer europäischen Nachbarn und läßt in Streiflichtern Bilder fremder Kulturen aufblitzen. Wenn aber Beiträge wie die von Octavio Paz und Homer über 10 Seiten ausufern, wünschte man sich doch den Platz für mehr und andere Beispiele.

„Natur!“ - John Burnside (Hrsg.)
Hundert Gedichte ausgewählt und mit einem Essay von John Burnside
Übersetzt von Bernhard Robben, Gisbert Haefs, Susanne Hornfeck, Jan Wagner, Ron Winkler, Eduard Klopfenstein, Mirko Bonné, Klaus-Jürgen Liedtke, Hans-Christian Oeser, Judith Zander, Esther Kinsky, Jürgen Brôcan, Werner von Koppenfels, Giovanni Bandini, Ann Cotten, Marianne Gareis, Simon Werle
 
© 2018 Penguin Verlag / Randomhouse, 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 13,5 x 21,5 cm, Lesebändchen, Farbschnitt  -  ISBN: 978-3-328-60000-8
22,- [D] /  22,70 € [A]/ 30,90 sFr
Weitere Informationen:  www.randomhouse.de