Wiedergelesen:

„Das Christkind aus den großen Wäldern“ von Edzard Schaper

von Joachim Klinger

 
Wiedergelesen:
„Das Christkind aus den großen Wäldern“
von Edzard Schaper
 
Es gibt viele Erzählungen zur Weihnachtszeit; die meisten sind unterhaltsam und verbreiten eine gemütliche Stimmung. „Spitzenreiter“ ist gewiß „A Christmas Carol“ von Charles Dickens (1812-1870), der auch noch ein spukhaftes Geschehen mitführt. „Mr. Scrooge“ der sich in der Weihnachtszeit vom bösartigen Geizhals zum gütigen Wohltäter läutert, begleitet uns als literarische Gestalt von der Kindheit bis ins Alter. Die Geschichte wird immer wieder publiziert, oft eindrucksvoll illustriert. Sie ist mehrfach verfilmt worden, und auch das tut der Verbreitung gut.
 
Zu den schönsten Weihnachtsgeschichten, die ich kenne, gehört „Das Christkind aus den großen Wäldern“ von Edzard Schaper (1908–1984). Ja, ich muß gestehen: sie ist mir die liebste.
Ich erinnere mich, daß ich als junger Mann das schmale Buch aus dem Verlag Hegner in Köln, das mir warm empfohlen worden war, fast unwillig in die Hand nahm. Denn es schien mir eine Kriegsgeschichte zu sein. 1954 (1. Auflage!) saß einem das Kriegsgeschehen noch „in den Knochen“.
Die Erzählung beginnt mit dem Satz:
 
„Eine Fernpatrouille der dritten finnischen Jägerbrigade unter dem Befehl des Leutnants Heiskanen, die in den Vorweihnachtstagen des Jahres 1941 den Auftrag erhielt, aus den Wäldern um K. vorzustoßen und aufzuklären, ob der Feind sich in den ... verstreuten Einöddörfern festgesetzt ... habe, hatte auf diesem einsamen Erkundungsgang ein Erlebnis, das, als ... schon ein eiskalter Januar angebrochen war, an diesem Frontabschnitt immer noch von Mann zu Mann besprochen wurde.“
 
Ein wenig einladender Anfang! Tödliche Gefahren im Winterkrieg mit Rußland, klirrender Frost, ein Häuflein finnischer Soldaten auf Skiern saust über schneebedeckte Weiten. Der Leser muß eine lange Strecke zurücklegen, bis er an den Ort des Geschehens, das in der Erzählung von zentraler Bedeutung ist, gelangt. Dabei ist es wichtig, daß er die tragende Gestalt kennenlernt, den Korporal Jänttinen. Das ist ein wortkarger, verschlossener Mann, aber erfahren und mit Spürsinn für konkrete Gefahren ausgestattet, grobknochig und hochgewachsen, im Zivilberuf Maschinenschlosser.
 
Der Spähtrupp unterzieht ein wohl übereilt vom Feind verlassenes Dorf einer vorsichtigen Erkundung und wird vor einem Haus auf das klägliche Wimmern eines Kindes aufmerksam. Jänttinen betritt mit einigen Kameraden das Haus und entdeckt in einem kleinen Bett das Kind. Als Jänttinen sich anschickt, die Decken von dem Kind zu entfernen, erkennt der stets wachsame Kamerad Sanavuori unter dem Bettgestell eine Mine und Sprengsätze. Deren Zündung war durch Schnüre mit dem im Bett festgebundenen Kind verbunden. Wurde das Kind unachtsam unter seinen Decken hervorgeholt, mußte es zur Explosion kommen.
In einer solchen Situation ist der erste Gedanke: Flucht. Aber Jänttinen durchschneidet im Schein seiner Laterne mit einem scharfen Messer die Stricke behutsam, so daß sie nicht gelockert werden. Er will das Kind retten, und es gelingt. Mit einem unförmigen Bündel um den Hals, aus dem ein leises Wimmern kommt, kehrt er zu seinen Leuten zurück und überläßt seinem Kameraden Sanavuori den mündlichen Bericht.
Die Schilderung der Rückkehr zum eigenen Frontabschnitt und der finnischen Truppe zeigt die Fähigkeiten eines erfahrenen Militärberichterstatters, sie sind spannungsgeladen und machen deutlich, daß Edzard Schaper selbst dabei war. Doch läßt er das Schicksal des Kindes keinen Moment aus den Augen. Gerettet ist es vor dem schrecklichen Tod als gefesselter „Lockvogel“ mit Minen unter dem Bett. Aber wie kann ein Mensch, der als Soldat im Kampf steht, das Kind durchbringen? Zum Beispiel fehlt es an geeigneter Nahrung.
 
Aber Jänttinen, selbst Vater von zwei Kindern, weiß Rat. Er kaut das Trockenbrot aus seinem Proviant und schiebt den „dunklen, säuerlichen Speisebrei“ mit den Fingern in den Mund des Kindes. „Kröpfen“ nennen seine Kameraden dieses Verfahren später. Mit Verbandszeug und einer Wundsalbe reinigt er das Kind. Und der Kleine? Er betrachtet „eigentlich nur Jänttinen und keinen der andern“ und „schien diesen Pflegevater als seinen einzigen und wahren Vater anzunehmen.“
Die sieben Angehörigen der Patrouille sehen in dem Kind eine Art „Familienmitglied“ und fühlen sich mitverantwortlich.
 
„Daraus entstand bei allen der Plan, so etwas wie eine Patenschaft ... zu übernehmen, ihn wirklich nach Christenbrauch Juhani taufen zu lassen und für seinen Unterhalt etwas auszuwerfen.“
 
Schließlich überläßt man das Kind einer „älteren Lotta“, einer Art Krankenschwester, die für eine Heimunterbringung sorgen will. Allerdings werden die Bezeichnung des Heims und die Anschriften des Personals sorgfältig aufgeschrieben.
 
Schon bis hierhin eine gute und lesenswerte Geschichte, aber es geht noch weiter. Beim Bataillonsstab liegt ein Telegramm vor, das Jänttinen für zwei Wochen in die Heimat ruft. Es handelt sich um eine Familienangelegenheit, die im Zusammenhang mit Luftangriffen gegen Ortschaften in der Heimat stehe, heißt es. Die schreckliche Realität: sein Heim zerstört, die Familie ausgelöscht. Die Kameraden lesen es in der verspätet ausgelieferten Zeitung in der amtlichen Bekanntgabe über die Opfer unter der Zivilbevölkerung.
Jänttinen macht sich sofort auf den Weg und erreicht das Städtchen, in dem er mit seiner Familie heimisch war, spät in der zweiten Reisenacht.
 
„Er stand eine Weile in der verdunkelten Straße vor den Resten seines Hauses ... Dann legte er sein Gepäck hinter eine Schutthalde, dorthin, wo früher einmal die Treppe in den Keller seines Hauses geführt hatte und ging zum Friedhof.“
 
Was tun? Jänttinen kehrt zurück zur Front, zu seinen Kameraden. Eine lange Fahrt!
 
„Bisweilen hatte er das Gefühl, er wisse nicht mehr, woher er komme und wohin er wolle. Seine Kompanie war ihm wegmarschiert. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er sie in den großen Wäldern jemals wiederfinden sollte.“
 
Als er sich irgendwo in einer Kantine Erbsensuppe holt, begegnet er der „älteren Lotta“, die den kleinen Juhani an sich genommen hat. Sie bezeichnet das Heim, nur ein paar Kilometer entfernt, in dem sich der Kleine nun befindet. Aber Jänttinen sucht zunächst das Dorf auf, wo der Kleine entdeckt wurde, dann meldet er sich bei seiner Kompanie, die in der Nähe Quartier bezogen hat.
 
Ganz plötzlich und ohne ein Wort bricht er wieder auf. Nach längerer Fahrt erreicht er das Heim für elternlose Kinder und fragt nach Juhani. Das Personal zeigt sich gut informiert, und kurz darauf steht Jänttinen in einem saalartigen Raum, in dem Kinder spielen. Und da ist Juhani, der kleine Findling! Er erkennt in dem fremden, verwilderten Soldaten seinen Ziehvater. Eine Szene, die hier nicht beschrieben werden soll.
Dies ist eine Geschichte voller Wunder! Da ist einmal die Rettung des Kindes aus dem verminten Haus und durch die feindliche Front. Zum anderen aber ein Kind als Geschenk nach dem Verlust der eigenen Familie. Und es drängt sich die Botschaft auf: Es gibt nichts Größeres als sein Leben einsetzen, um ein anderes Menschenleben zu bewahren und sich seiner anzunehmen.