„Weisheit auf der Gasse“

Des Menschen Lebenszeit in der Sicht eines Märchens der Brüder Grimm

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Weisheit auf der Gasse“
 
Des Menschen Lebenszeit
in der Sicht eines Märchens der Brüder Grimm
 
Von Heinz Rölleke
 
Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten seit 1807 Märchen aus alten Büchern wie aus zeitgenössischer mündlicher Überlieferung in Hessen. 1812 kam der erste Band des Weltbestsellers „Kinder- und Hausmärchen“ auf den Markt. Bis 1857 folgten sechs jeweils veränderte Auflagen, die am Ende stets die inzwischen neu zugekommenen Texte bieten. Seit 1819 hatten die Grimms die Suche nach mündlich tradierten Märchen weitgehend eingestellt. Eine bemerkenswerte Ausnahme machten sie noch einmal, als sie die 1838 zugekommene Aufzeichnung eines ihrer Kasseler Freunde 1840 in die vierte Auflage des Märchenbuches aufnahmen; Wilhelm Grimm merkte dazu an:
 
            „Es freut uns, daß unter den neuen Stücken, womit die Sammlung abermals vermehrt worden, sich auch eins wieder aus unserer Heimat befindet. Das schöne Märchen von der Lebenszeit erzählte ein Bauer aus Zwehrn einem meiner Freunde, mit dem er auf dem freien Felde eine Unterredung angeknüpft hatte; man sieht, daß die Weisheit auf der Gasse noch nicht ganz untergegangen ist.“
 
Die Geschichte handelt die seit Urzeiten und immer wieder neu gestellte Frage nach der Dauer und den Stadien des Menschenlebens in  parabelhafter Fabelform ab; man kann sie auch als ätiologische Erzählung ansehen, weil sie den Grund für die Lebensdauer des Menschen und einiger Tiere angibt.
 
„Als Gott die Welt gechaffen und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte“, ließ er nacheinander den Esel, den Hund, den Affen und den Menschen vor sich kommen. Jedem hatte er 30 Lebensjahre zugedacht – damit war aber keiner zufrieden: Den Tieren schien diese Zeit zu lang, dem Menschen zu kurz. Der Esel schildert seine Leiden und Unterdrückungen, so daß ihm der Schöpfer mitleidig 18 Jahre erläßt, ergo soll der Esel 12 Jahre leben. Der Hund schildert seine zunehmende Nutzlosigkeit und läßt sich gern 12 Jahre nehmen, so daß er 18 Jahre leben soll. Der Affe, der immer den traurigen Clown spielen muß, werden 10 Jahre geschenkt, so daß er es auf 20 Jahre bringen kann. „Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen.“ Die angebotenen 30 Jahre sind ihm als Lebenserwartung entschieden zu wenig:
 
            „'Welch eine kurze Zeit!' rief der Mensch. 'Wenn ich [...] meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! O Herr, verlängere meine Zeit.'“
 
Gott bietet ihm nacheinander die dem Esel, dem Hund und dem Affen erlassenen Jahre an, aber der Mensch ist mit nur 48, 60 oder schließlich 70 zugeteilten Jahren ganz und gar nicht einverstanden. Beim Angebot der 10 Jahre des Affen verliert der Herr die Geduld:
 
            „'Wohlan', sagte Gott, 'ich will dir noch die 10 Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.' Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.
            Also lebt der Mensch 70 Jahr. Die ersten 30 sind seine menschlichen Jahre […]. Hierauf folgen die 18 Jahre des Esels […]. Dann kommen die 12 Jahre des Hundes. Da liegt der Mensch in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die 10 Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.“
 
Wilhelm Grimm bemerkte sofort die enge Verwandtschaft dieses Textes mit einer antiken Tiergeschichte des Babrius, der im 1. Jahrhundert nach Christus in Syrien seine Fabelbücher verfasst hatte. Man kann auch heute noch sein freudiges Erstaunen, über das Geheimnis, wie ein solcher Text in Europa fast 2000 Jahre hindurch in der mündlichen Tradition überlebt hat, immer noch nachempfinden. Zugleich waren ihm und seinem Bruder zahllose Bildtafeln vertraut, die Generationen hindurch in vielen deutschen Bauernhäusern an der Wand über dem Eßtisch ihren Platz hatten. Auf ihnen war eine auf- und absteigende Treppe abgebildet; auf jeder Stufe wurde der Mensch in seiner sich nach je einem Jahrzehnt wandelnden Gestalt dargestellt, und darunter stand der Text zu den verschiedenen Alterstufen:
 
            „Zehn Jahr ein Kind; Zwanzig Jahr ein Jüngling; Dreißig Jahr ein Mann […]; Sechzig Jahr geht's Alter an [...]; Neunzig Jahr der Kinder Spott; Hundert Jahre Gnad' von Gott.“
 
Vergleicht man den Märchentext mit dieser Altersstufentreppe, so fallen die Abweichungen und Übereinstimmungen ins Auge: Im Märchen umfassen 30 Jahre die 'menschliche' Zeit eines Lebens, auf den Treppen sind es 40 oder 50 Jahre; dagegen „geht’s Alter“ in beiden Darstellungen mit 60 Jahren an (im Märchen die für den Menschen hinzugekommenen 10 Jahre des Affen); zum Spott der Kinder wird der Mensch im Märchen und auf der Lebenspyramide während seiner letzten zehn Lebensjahre – bei Grimm allerdings schon ab dem 60., auf der Treppe erst ab dem 90. Jahr. Diese Divergenz geht gewiss nicht auf im Laufe der Jahrhunderte gestiegene Lebenserwartung zurück, sondern gründet in Symbolzahlen: Die Treppe will die äußerst dem Menschen zugewiesene Lebensspanne von genau 100 Jahren darstellen, das Märchen hält sich an die Bibel:
 
            „Unser Leben währet 70 Jahre [...], und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ (Psalm 90.10)
 
Dem immer unzufriedenen Menschen waren die ersten 30 Jahre seines Lebens nicht genug, denn er meinte, erst nach deren Abschluß könne er daran denken, sein bis dato Erreichtes zu genießen, „seines Lebens froh zu werden.“ Sein verständlicher Wunsch nach einer längeren Lebenszeit erweist sich aber als töricht, denn was folgt, sind die sehr arbeitsamen Jahre des Esels (30 bis 48 Jahre), die Hetzerei bis zur Erschöpfung in den Jahren des Hundes (48 bis 60 Jahre) und die Schwachköpfigkeit in denen des Affen (60 bis 70 Jahre). Die Parabel scheint sagen zu wollen: Der Mensch erreiche als Dreißigjähriger den Zenit seines Lebens, denn von da an gehe es nur noch bergab. Sie ist mit dieser Ansicht in der allerbesten Gesellschaft: Alexander der Große starb mit 33 Jahren auf der absoluten Höhe seines Lebens und seines Ruhms. Christus trat sein öffentliches Wirken mit 30 Jahren an und erlitt wenig später den Kreuzestod; er erreichte nach Worten des Apostels Paulus im Brief an die Epheser (IV.13) das „Vollmaß des Alters“, das auch Ziel für die Gläubigen sein soll, „bis zur Mannesreife Christi zu gelangen“ („in virum perfectum, in mensuram aetatis plenitudinis Christi“). Friedrich Hölderlin spricht genau in der Mitte seiner „Patmos“-Hymne davon, daß Christus „zu rechter Zeit“ sein Leben beschloß, denn „nicht wär' es gut gewesen, später.“ 
 
Einige Weisheiten der alten Parabel, wie sie noch der hessische Bauer 1838 wiedergeben konnte, sind: Der Mensch ist grundsätzlich im Irrtum, wenn er meint, er könne die Annehmlichkeiten seiner ersten 30 Lebensjahre unverändert weiter genießen oder gar noch steigern. Das in diesen 30 Jahren mit freudigem Fleiß Erworbene verlangt nun etwa zwei Jahrzehnte mühsamer Pflege, die den Menschen so niederdrücken kann wie die Kornsäcke und andere Lasten den armen Packesel. Kann er das nicht mehr mit voller Kraft leisten, so scheint der Mensch sich selbst und anderen immer mehr unnütz, weil er im wahrsten Wortsinn „zahnlos“ geworden ist und nurmehr über den Welt- und Lebenslauf „knurren“ kann. Daß er schließlich zum „Gespött“ der nach ihm Heranwachsenden wird, merkt der am Ende 70-jährige in der Schwachköpfigkeit seines Alters wohl schon kaum noch. Da steckt die „Traurigkeit“ wahrhaftig „hinter dem Spaß“, wie der weise Affe seinen Schöpfer bescheidet.
 
Und: Die weise Einsicht des Märchens in die Einrichtung und den Ablauf eines Menschenlebens mit den verschiedenen Lasten und Leiden war in früheren Zeiten wohl jedem nachvollziehbar. Die Erwartung des Menschen, er könne seines Lebens nach Vollendung des 30. Jahres endlich richtig froh werden, wird unübersehbar gedämpft, und der Versuch, das Leben in jedem Fall zu verlängern, mußte letztlich als Torheit erscheinen, denn er schleppt sich dann durch all die Leidensjahre, die die Tiere klugerweise abgegeben haben. Vor allem aber ist der Sinn eines erfüllten Lebens nicht durch dessen Länge definiert. Um in Erfüllung des Shakespeare'schen Lebensmottos „Ripeness is all“ für seinen Tod reif zu sein (in des Wortes doppelter Bedeutung: die gereiften Früchte eines Lebens in der Ernte einzubringen und damit bereit zu sein, den Lebensfaden durch den Tod abschneiden zu lassen), muß nicht jeder 70 Jahre oder älter werden.
 
Kann der alte Text auch gegenwärtig noch etwas bedeuten, obwohl wir die Leiden der Kreaturen um uns nicht mehr so eindeutig wahrnehmen, und obwohl wir manches erreicht haben, auch die älteren Lebensphasen einigermaßen schmerz- und beschwerdefrei anzugehen? An den vom Märchen in plastischen Bildern vorgestellten Wandlungen auf den einzelnen Stufen des Lebens hat sich grundsätzlich nichts geändert. Wer also auf die überzeitliche Weisheit des Märchens hört, ist immer noch gut beraten.
 
In jüngerer Zeit geht die Lebenserwartung des Menschen über das biblisch vorgezeichnete Maß von 70 Jahren hinaus. Entsprechend verschieben sich auch die einzelnen Lebensphasen: Der Zenit des Lebenslaufs und damit zugleich der Beginn des Abstiegs auf der Alterstreppe wurde unmerklich zunächst auf 40, dann auf 50 Jahre verschoben. Die sich seit dem 17. Jahrhundert allgemein durchsetzende Auffassung von der um das 40. Jahr auftretenden Midlife crisis war in vielen Altersstufendarstellungen schon früh um 10 Jahre, das Auftreten des Altersschwachsinns gar um 30 Jahre verschoben worden.
 
Die studentische Jugend in Goethes „Faust“ bleibt allerdings der älteren Generation gegenüber drastisch bei der Meinung, das Leben sei nach dem 30. Geburtstag nicht mehr lebenswert:
           
                                   „Gewiss! Das Alter ist ein kaltes Fieber
                                   Im Frost von grillenhafter Not.
                                   Hat einer dreißig erst vorüber,
                                   So ist er schon so gut wie wie tot.
                                   Am besten wär's, euch zeitig totzuschlagen.“
                                                                             („Faust II“, v. 6785-89)
 
Man muß die Weisheit des alten Märchens nicht unbedingt anerkennen, denn sie drängt sich keinem auf. Sie ist ein Angebot in uralten Bildern, die den Menschen offenbar durch die Jahrhunderte geholfen haben, ihren künftigen Lebenslauf realistisch zu sehen und damit die große Enttäuschung vom Leben, über die heute so viele klagen, zu vermeiden oder mindestens zu mildern. Denn die Uneinsichtigkeit in die immer gültigen Gesetze eines jeden Lebenslaufs, das falsche Verschließen der Augen vor den Umständen des Alterns und des Todes werden als Dummheit, ja als eine gewisse Art, das Leben zu verfehlen, vor Augen gestellt. Ähnliches sagt der Prediger Salomonis (I.3.8) in dem Weisheitsbuch des Alten Testaments:
 
            Es sind alle Dinge so voll Mühe, daß es niemand ausreden kann. Das Auge sieht sich nimmer satt. Und das Ohr hört sich nimmer satt.
 
Selbst wenn es dem Menschen dämmert, daß Leben auch immer Leiden bedeuten kann, das sich im fortschreitenden Alter womöglich noch steigert, so kann er sich doch nicht losreißen, unersättlich immer noch mehr sehen und hören zu wollen.
 
Die Brüder Grimm  haben das klug erkannt, indem sie auf das Märchen von der Lebenszeit unmittelbar einen Text mit dem Titel „Die Boten des Todes“ folgen ließen. Hier hatte der Tod dem (modernen) Menschen versprochen, er käme nicht unverhofft, sondern er würde ihm sein Lebensende früh genug anzeigen. Der Mensch lebt nun fröhlich vor sich hin, so lange ihm kein „Bote“ vom Tod gesandt wird. Als dieser dann ganz unerwartet kommt, protestiert der Mensch:
 
            „'[...] willst du dein Wort brechen? Hast du mir nicht versprochen, daß du mir, bevor du selber kämest, deine Boten senden wolltest? Ich habe keinen gesehen.' 'Schweig', erwiderte der Tod, 'habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? Kam nicht das Fieber […]? Hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht […]? Ward dir's nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?' Der Mensch wußte nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.“
 
Die Ausdeutungen der einzelnen Lebensstufen, die der Mensch bis zu seinem Ende durchschreitet, wie die stete Mahnung, sich darauf immer wieder zu besinnen, stehen im Einklang mit der Forderung des antiken Fabeldichters Aesop, man solle, was immer man tue (in welche neue Lebensphase man auch eintritt), es weise tun und immer das Ende (letztlich den Tod) bedenken:
 
„Quidquid agis, prudenter agas, et respice finem!
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019