Klebenslang fürs Taschenbuch

Emil Lumbeck - Ein Leben mit Kleister

von Max Christian Graeff

Klebenslang fürs Taschenbuch
 
Die Zahl jener Dinge, Stoffe, Mechaniken, Prozesse oder Reformen, die nicht im heutigen Wuppertal erfunden, entdeckt oder losgetreten wurden, ist bekanntermaßen überschaubar. Das Taschenbuch in seiner heutigen Form, dessen Inhalt also weder mit Faden noch mit Draht gebunden oder geheftet, sondern stapelverleimt ist, gehört leider dazu. Allzu gerne würden wir es hier im Legendental verorten, aber die ersten Patente wurden ab 1811 in Österreich, England und Amerika vergeben. Der verwendete Latex der Hevea- und Ficus-Arten, aus dem man ab 1824 in England nebenbei Regenmäntel und Gummistiefel zu produzieren begann (auch das eine bittere Niederlage für unser Erfindertal), brach bei Kälte jedoch kurzerhand entzwei. Und genau dieses so leise wie bestialische Krachen und Bersten beim Aufschlagen eines für nicht weniger als die Ewigkeit erworbenen Buches fährt jedem Bücherliebhaber tief durch Mark und Bein.
            Trotz Raumnot ein Exkurs: Sowieso war das „Taschenbuch“ einst ein redaktioneller Begriff, wie uns unter vielen Beispielen auch das „Taschenbuch auf das Jahr 1812 für die Stadt und den Kanton Elberfeld“ aufzeigen mag, das als Handexemplar des „A. W. von der Heydt“ in der UB Düsseldorf ruht. Der bekannte Elberfelder Verleger J. C. Eyrich widmete es hochachtungsvoll „den Beförderern des Nützlichen und Guten“, und es enthielt neben Verzeichnissen „öffentlicher Autoritäten“ und der Namen von Kaufleuten und Fabrikanten mitsamt deren Befindlichkeiten sogar Listen ankommender und abgehender Posten beim K. K. Postamt sowie eintreffender Frachtfuhren und deren Träger, dies alles allerdings fadengebunden in festem Einband und wohl kaum mit der heutigen DSGVO zu vereinbaren, aber gewissermaßen als ein Facebook jener Tage zu betrachten.
            Zurück zum Thema: Lauschen Sie bitte einmal auf das Aufklappverhalten dieses Kulturmagazins. Und? Eben, Sie hören nichts. Kein Rücken bricht, keine Seite fleddert oder ribbelt sich raus. Genau dies beruht, inzwischen meist als Heißleim und längst nicht mehr aufgefächert kaltleimklebegebunden, auf der Hartnäckigkeit des am 22. 2. 1886 in Remscheid geborenen, an der Elberfelder Höheren Handelsschule ausgebildeten und in London zum Bibliophilen erwachsenen Emil Lumbeck, der als Metallwarenhändler in Paris den Vorsatz faßte, die Bücherwelt auf den Kopf zu stellen, auch wenn er noch nicht wußte, wie. Er las angeregt die Werke des Sozialphilosophen John Ruskin, dessen deutscher Verlag Langewiesche das so gut zu unserer Stadt passende Motto verkündete: „Arbeiten und nicht verzweifeln!“ Bald nach dem 1. Weltkrieg war Lumbeck auch schon Direktor bei der hiesigen Metallwarenfabrik Stocko und ab 1926 leitete er deren Zweigwerk in Leningrad, dessen Haken und Ösen für die Schuhindustrie in Wuppertal noch mit einem Kunstharz-Schutzfilm ausgestattet wurden, der jedoch bei stetiger Benutzung absprang. Man forschte lange an der Elastifizierung herum, bis eines Tages ein Vorarbeiter in höchsten Nöten sein Wasser in einen falschen Eimer ließ, der daraufhin wieder in die Produktionskette gelangte. Und genau dies war sprichwörtlich das fehlende Glied, denn der Harnstoff als Weichmacher brachte die Erleuchtung. Nun kam Lumbecks komplexes Verständnis der Dinge ins Spiel, mit dem er, 1935 in ein Bochumer Buchhandelsunternehmen gewechselt, etwa 1937 seinen dünnflüssigen Kunstharz-Kaltleim „Eluid“ (für Emil Lumbeck in Deutschland) patentieren ließ und mit speziellen Apparaturen die Herstellung haltbarster Blockleimungen zur industriellen Serienreife brachte. Seine Erfindungen hatten – vor allem in Verbindung mit dem Hochgeschwindigkeits-Rotationsdruck – einen Bombenerfolg, dem schließlich die Enteignung durch die SS folgte, die nach dem Krieg jedoch bald rückgängig gemacht wurde. Auch die nun folgenden Geschichten würden ein ganzes Heft füllen: Mit Verwandten entwickelte er in Verden/Aller Buchbindesysteme, deren Nachfolger Müller Martini heute noch Weltmarktführer sind. Ernst Rowohlt stieg mit seinen rororos auf Eluid um; ab 1952 folgten Telefonbücher und Handelskataloge. Der Erfinder wohnte da bereits wieder in Wuppertal und zog sich bald ins Privatleben zurück. Er erzählte sein Leben noch in hohem Alter auf Tonkassetten, welche jedoch versehentlich mit Beatles-Liedern überspielt wurden [sic!] und starb am 8. August 1979 in Elberfeld. Heute werden weltweit drei Viertel aller Bücher klebegebunden. Die Lumbeck-Villa am Pickartsberg ist längst abgerissen, sein Name in der Kulturgeschichte unserer Stadt kaum noch aufzustöbern. Nur die Seiten in Emil Lumbecks erstem kaltleimklebegebundenen Buch, die sitzen noch fest wie am ersten Tag.
 
 
Entnommen aus die beste Zeit 1/19 mit freundlicher Erlaubnis von Autor und Redaktion
 
Die Kolumne „Petrichor“ im Kulturmagazin „die beste Zeit“ ist nach der Bezeichnung des Geruches benannt, der von Regen auf trockenem Boden hervorgerufen wird. Auf dieser regelmäßigen Seite erinnert MC Graeff an erwähnenswerte, aber aus dem Blickfeld geratene Aspekte der Wuppertaler Kultur. Der Artikel zu Emil Lumbeck erschien in der aktuellen Ausgabe (Januar bis März '19) der „besten Zeit“, deren vollständiger Konsum nach Erwerb ausdrücklich empfohlen sein darf. Von dem vergriffenen und gesuchten Buchobjekt „Emil Lumbeck: Mein (K)Leben“ (Stans bei Luzern, 2007) erscheint im Frühjahr eine einmalige Zweitauflage von 50 Exemplaren in privater Edition bei MC Graeff.