Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn...

„Wenn der Abend kommt“ - Gedichte und Lieder aus vier Jahrhunderten

von Robert Sernatini

Der Abend wechselt langsam die Gewänder…
 
Das Lob des Abends
in der Lyrik von vier Jahrhunderten
 
 
Abend
 
Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk; wo Tier und Vögel waren
Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!
 
Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
Ich, du und was man hat, und was man sieht hinfahren.
Dies Leben kömmt mir vor als eine Renne-Bahn.
 
Laß höchster Gott mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten,
Laß mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten!
Dein ewig-heller Glanz sei vor und neben mir,
 
Laß, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir.
 
Andreas Gryphius
 
 
Der Zauber der Blauen Stunde, das Sinken des geschäftigen Tages, die Magie der heraufsteigenden Nacht beschäftig(t)en Dichter in allen Literaturepochen. Ob es der Genuß der über die Menschen kommenden Ruhe ist, das kleine Glück, sein müdes Haupt betten zu können, die Hoffnung auf den erquickenden Schlaf und einen folgenden guten Tag oder der barocke Vanitas-Gedanke, ob es die dankbare, vertrauensvolle Hinwendung zu Gott ist oder die diffuse Furcht vor der alles überdeckenden Dunkelheit - Abendgedichte und -lieder greifen alle diese Gedanken und Gefühle auf.
Von Prof. Jürgen Born 1979/80 in einem dem Thema angemessen stets bei Sonnenuntergang stattfindenden Seminar an der Universität Wuppertal erarbeitet, stellt das 1988 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienene Buch eine der schönsten Sammlungen von lyrischen Beschreibungen des Abends vom Barock bis ins ausgehende 20. Jahrhundert dar.
Selbstverständlich gehört das eingangs zu lesende berühmte Gryphius-Gedicht „Abend“ (Der schnelle Tag ist hin) in eine solch anspruchsvolle Anthologie von Abendliedern und -gedichten. Gemeinsam mit Philipp von Zesens „Abendlied“ (Es hat nunmehr das güldne Licht), Lohann Klajs „Abend-Lied“ (Die Sonn hat sich verkrochen), Paul Gerhardts „Abendlied“ (Nun ruhen alle Wälder) und Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens „Lied“ (Komm Trost der Nacht, o Nachtigall) führt Andreas Gryphius die Sammlung an, die ich Ihnen heute hier vorstellen möchte und in der Johann Wolfgang von Goethes klassischer Achtzeiler nicht fehlen darf:
 
Ein gleiches
 
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch:
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
 
Es ist ein lyrischer Schatz, den das Buch hebt und von dem es leider nie eine gebundene Ausgabe gab. Eine solche nämlich würde dem ambitionierten und gelungenen Projekt gerecht. Die repräsentative Sammlung umfaßt 133 Gedichte von 91 deutschen Autoren, von Hans Freiherr von Abschatz Assmann (1646-1699) bis Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio (1803-1869) bzw. in zeitlicher Einordnung von Philipp von Zesen (1619-1689) bis Ulla Hahn (*1946). Religiös geprägt, romantisch umwebt, expressionistisch klirrend oder realistisch konkret besingen, loben und beschreiben die Texte den Abend, jedoch auch seine Melancholie, Einsamkeit und Tristesse, wie z.B. Paul Boldt 250 Jahre nach Gryphius:
 
Novemberabend
 
Es weht. Das Abendgold ist eine Fahne,
Die von den Winden schon erbeutet wird.
Ein etwas Herbst in der Platane,
Ein grelles Chrom verweht, verwird.
 
In Wolken gleich verkohlten Stämmen
Riecht man die tote Sonne noch;
Dann das Einatmen, Drängen, Dämmen -
Einsamkeiten kommen hoch.
 
Paul Boldt
 
 
Das schmale, nichtsdestoweniger wertvolle Buch, das nur noch in wenigen Exemplaren im Antiquariatsbuchhandel zu finden ist, gibt einen intimen Einblick in die Befindlichkeiten von Epochen und Dichtern.
Dem Vernehmen nach soll die Anthologie in absehbarer Zeit eine überarbeitete Neuauflage (nicht bei Fischer) erfahren. Wir werden die Entwicklung verfolgen und berichten.
 
„Wenn der Abend kommt“ - Gedichte und Lieder aus vier Jahrhunderten
Herausgegeben von Jürgen Born – Mit Auswahl-Beiträgen von u.a. Katrin Kunze, Meike Fischer, Marduk Buscher und Frank Becker
© 1988 Fischer Taschenbuch Verlag, 224 Seiten, Broschur, Verzeichnisse der Quellen, der Autoren, der Titel und der Gedichtanfänge – ISBN 3-596-29228-X
(vergriffen)
 
Ergänzende Literaturhinweise:
- Dichtergrüße, hrsg. von Elise Polko, o.J. (um 1890), Amelang, Leipzig
- Quell der Nacht, hrsg. von Hartfrid Voß, 1940 Langewiesche-Brandt, Ebenhausen
- Zum Tagesausklang, Ausgewählt von Cornelius Witt,1947 Hans Köhler Verlag, Hamburg
- Hans Schomerus, Anweisung zum guten Schlaf, 1960 Furche Verlag, Hamburg
- Wenn der Tag sich neigt, hrsg. von Beate Reuther, 1981 Transcontact Verlag, Frankfurt/M.
- Über allen Gipfeln ist Ruh..., o.J. Dr. Riederer Verlag, Stuttgart
- Das Büchlein vom guten Schlaf, o.J. Chemische Werke Albert, Wiesbaden