Über den Fluß

Eine Erzählung

von Bettina Rosky

Bettina Rosky
Über den Fluß

Am 28. Dezember 1879 zerschmetterte ein Orkan die Brücke über den Firth of Tay an der Ostküste Schottlands, ein Zug stürzte in die Tiefe und riß 75 Passagiere mit sich. Das dichte eiserne Fachwerk, von dem der Ingenieur Thomas Bouch geglaubt hatte, es werde den Naturgewalten bis ins nächste Jahrtausend trotzen, barst unter dem Druck des Sturms wie morsches Holz. Daran brach auch das Herz des Konstrukteurs.

Johann August Roebling aus Thüringen, der Erbauer der New Yorker Brooklyn Bridge, starb an Wundstarrkrampf. Ein Fährboot hatte seinen Fuß zermalmt, als er einen der beiden Pylonen vermessen wollte. Die Manifestation seines Traums von einer eleganten Hängebrücke über den East River hat er nicht mehr erlebt.
Sein Sohn Washington Roebling, der das Projekt übernahm, tauchte eines Tages zu schnell auf, als er die Pumpen kontrollierte, die in den Tiefen des störrischen Flusses den Boden für die Fundamente auspumpen sollten, und war fortan gelähmt. Im Rollstuhl am Fenster seiner Brooklyner Wohnung sitzend, beobachtete er das Wachsen der gewaltigen Konstruktion durch ein Fernglas und flüsterte seiner Frau Emily Befehle zu, die sie den Bauarbeitern übermitteln sollte. Als im Mai 1883 bei der Eröffnungsfeier Tausende erstmals zu Fuß den East River überquerten, die Brücke unter den Schritten vibrierte und die Stahlseile im flirrenden Sonnenlicht glitzerten, weinte er.

„Was liest du da?“ unterbrach Gerti die Stille des Nachmittags. Sie stellte ein Tablett mit Tee und Keksen auf den Rauchtisch neben den Kamin und sah über Giovannis Schulter in sein Buch. Ein paar Zeilen reichten ihr. „Ach, wieder nur was über Brücken! Reicht es dir nicht, die ganze Woche über mit dem Kram beschäftigt zu sein?“
„Brückenbauen, liebe Gerti“ begann Giovanni zu dozieren, „Brückenbauen ist nicht etwas, mit dem man ‚beschäftigt’ ist. Brückenbauen ist eine Aufgabe, die weit über das hinausgeht, was man als Job erledigen kann. Es ist das Größte, was ein Mensch schaffen kann: Abgründe überwinden, Gewässer gangbar machen. Hör mal zu!“ Er las ihr den Abschnitt vor, bei dem sie ihn gestört hatte, den Abschnitt über die genialen Architekten und Ingenieure, die mit ihrem Werk derart verbunden waren, daß sie mit ihm zu Grunde gingen. ‚Liebestod’, nannte Giovanni das. „Verstehst du, ein Tod aus Verschmelzung!“

„Wie du dich ereifern kannst“, sagte Gerti und legte den Kopf schief. „Du hast ganz rote Backen gekriegt!“ Sie sah ihn lüstern an, meinte Giovanni. „Liebestod!“ zitierte sie flüsternd und wartete. Giovanni reagierte nicht. Er war schon wieder in seinem Buch verschwunden und merkte nicht, wie sie leise den Raum verließ. Er betrachtete die Fotos, herrliche Fotos: die Steinbrücke über den Barle River im englischen Exmoor National Park, ungeschlacht, doch seit grauer Vorzeit tadellos funktionierend, der elliptische Bogen der Ponte della Maddalena in der Toskana, der sich im stillen Wasser perfekt spiegelte, und die Königin der Brücken, eine Hängekonstruktion, die den Großen Belt überspannt und so die Wunde zwischen Seeland und Fünen schließt. Die Zerrissenheit der Welt war geheilt. Das hatte er deutlich empfunden, als er nach Dänemark gereist war, um die Einweihung zu erleben, und das spürte er jetzt beim Betrachten der Fotografie. Was für ein Glück, diesen schönsten Beruf der Welt ausüben zu dürfen! Besonders liebte Giovanni Brücken übers Wasser. Natürlich, es war bewundernswert, was Brückenbauer im feindseligen Terrain der Schweizer Alpen geleistet hatten, als sie im Hochgebirge phantastische Gebilde errichteten. Unfaßbar, daß Menschen jeden Stein, jeden Balken, jeden Sack Zement im Rucksack hatten hinauf tragen müssen; so unfaßbar, daß diese Bauwerke heute noch „Teufelsbrücken“ heißen, weil ER wohl daran mitgewirkt haben muß.

Nein, Giovanni liebte Brücken übers Wasser. Das Buch hatte er zur Hand genommen, um sich zu erinnern, wie das war, als er vor Monaten darin Inspiration suchte für einen Wettbewerb, und auch gefunden hatte, es war allein diesem Buch zu verdanken. Am Freitagmorgen war der Anruf gekommen, den er so lange erwartet, erhofft hatte. Er, Giovanni Stollberg, war beim Architektenwettbewerb ausgezeichnet worden und hatte für sein Modell einer Fußgängerbrücke über die Kerst bei Ingenheim den Zuschlag erhalten. Er, Giovanni-im-Glück Stollberg hatte mit seinem futuristischen Entwurf die Herzen und Sinne der Jury erreicht und durfte nun seinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Eine filigrane Hängebrücke, Tausende von Stahldrähten, zu einem mächtigen Seil verdrillt, gehalten von einem einzigen Pylonen, der, und das war das Besondere, das Unglaubliche seines Plans, der an einem Ufer verankert schräg über den Fluß ragen würde. Ein gebogener Steg aus Betoplast, diesem einzigartigen neuen Werkstoff, würde an nur vier Kabeln aufgehängt das Wasser überspannen. Schon im Modell war ersichtlich, daß diese Brücke die Landschaft nicht nur nicht verschandeln, sondern geradezu verzieren würde, sie wirkte leicht wie ein Grashalm, der sich beugt. Seine Berechnungen stimmten, dessen war sich Giovanni sicher, und fand seine Einschätzung bestätigt durch das Urteil des Komitees, einer Reihe erfahrener, ja berühmter Ingenieure, Erfinder und Architekten; Künstler, um nicht zu sagen: Götter ihres Fachs.

Am Sonntag fuhr Giovanni nach Ingenheim. Er war noch immer wie berauscht, spazierte im kaltklaren Mittagslicht an der Kerst entlang, bis er an die Stelle kam, wo der Brückenschlag geplant war, froh, daß er allein ging, nicht reden mußte, sondern stattdessen über Kopfhörer seine Musik genießen konnte. Die Kerst, an dieser Stelle 42 Meter breit und langsam fließend, glitzerte im Schein der Sonne, die winterlich niedrig stand. Am Ufer wuchsen Eisbüschel ins Wasser, ein paar Weiden ließen ihre kahlen Zweige hängen bis auf den Boden, und Giovanni streifte sie und schnupperte daran, griff sich einen Klumpen Erde, schweren, nassen Wiesenboden, und zerdrückte ihn, fühlte diesen Ort, roch ihn, schmeckte ihn, und die ganze Zeit hörte er diese herrliche Musik, ein „Agnus dei“ von einem Franzosen, der sehr jung gestorben war. Giovanni stand am Ufer des Flusses, seines Flusses, und phantasierte seine Brücke in diese ruhige Landschaft, so sanft, so sicher, so schön. Und die Musik, so schien es ihm, war wie seine Brücke, eine leichte Konstruktion, die Mittelstimmen hingen an den starken Trägern der Melodie wie der gebogene elastische Steg. Die Töne näherten sich einander und entfernten sich wieder, wie die Stahlseile, die sich aufschwingen würden zu dem glänzenden Pfeiler, der wie ein Finger in den Himmel wiese. Und auch hier, in der Musik, war alles genau berechnet und ebenso genau gefühlt. Er spürte plötzlich, wie er so da stand und meditierte, wie diese Musik mit seiner Idee von der Brücke über die Kerst verschmolz, jetzt, hier, am eisigen Ufer, und für immer.

Gerti hatte allein zu Abend gegessen. Das war nichts Ungewöhnliches in diesen Wochen. Sie deckte längst nicht mehr für Giovanni mit, es war zu deprimierend, auf den leeren Teller, das leere Weinglas, den leeren Stuhl zu starren. Wenn er nach Hause kam, spät, würde sie wieder vor dem Fernseher eingeschlafen sein. Anfangs hatte sie gemeint, er müsse eine Geliebte haben. Und irgendwie hatte er auch eine, aber es war keine Frau, es war diese verdammte Brücke. Gegen eine Frau hätte sie um ihn kämpfen können, ihm die alte Frage stellen: Was hat sie, das ich nicht habe? Aber so?
Es war ganz still in der Wohnung. Die Kerzenflamme zitterte leicht. Gerti löschte sie, ließ alles stehen außer dem Wein. Den nahm sie mit ins Wohnzimmer und setzte sich in den grünen Sessel am Fenster. Es war kalt und sternenklar, der Mond hing ganz rund im schwarzen Geäst der Kastanie. Der Frühling schien dieses Jahr überhaupt nicht kommen zu wollen. Gerti fröstelte. Aber es lohnte sich nicht, den Kamin anzumachen. Nicht für einen allein.

„Nein, ich will nicht, daß du sie vorher siehst“, sagte Giovanni beim Frühstück. „Es sind doch nur noch 14 Tage bis zur Einweihung, das hältst du doch aus, Schatz, mh? Und wir haben ja auch noch viel zu tun, der Zugang am linken Ufer macht uns Probleme, der Boden ist so naß, dass er noch drainiert werden muß. Damit hat ja keiner gerechnet! Ich hoffe nur, daß wir rechtzeitig fertig werden! Nachher treffe ich mich noch mit einem Spezialisten aus Holland, der sich die Sache mal ansehen will, und hoffentlich wird der Bagger am Montag weggeräumt, der steht uns seit Tagen im Weg rum!“

„Du fährst heute noch zur Baustelle? Es ist Samstag! Du brauchst doch zwei Stunden hin und zwei zurück, dann ist es schon  dunkel, und aus unserm Spaziergang wird wieder nichts!“
„Das macht nichts, wenn es dunkel wird“, sagte Giovanni, der nicht richtig zugehört hatte und sich wieder über seine Zeichnungen beugte. „Die arbeiten doch längst in zwei Schichten, abends mit Flutlicht, sonst hätten wir keine Chance mehr gehabt. Verdammt, ich hatte Beckmann das gleich gesagt, wir schaffen’s nicht ohne Kuypers und seine Truppe, und Karsten war meiner Meinung und hat ihm mit Engelszungen zugeredet, aber er wollte ja nicht. Jetzt wird das Projekt viel teurer als geplant, und der Stadtrat hat schon aufgemuckt.“
Gerti kannte all die Namen, die Giovanni erwähnte, er hatte solche Monologe schon oft gehalten, und immer beim Frühstück, wie jetzt, denn den Rest des Tages war er weg. Giovanni sprach immer noch, aber was er sagte, verstand sie nicht mehr, es war nur so ein Rauschen, über das sie ihre Gedanken legte. Eigentlich ist er auch weg, wenn er da ist, dachte sie. Und als sie in sein Gesicht schaute, sah, wie sich der Mund öffnete und schloß, da wurde der große Mann auf einmal klein und kleiner und rückte ganz nach hinten. Der Tisch, an dem sie einander gegenüber saßen, wurde 42 Meter breit, und daß ein Zipfel des riesigen, entfalteten Bauplans in die Butter hing, sagte sie ihm nicht. Als Giovanni in dieser Nacht nach Hause kam, war er wieder Single, aber er merkte es erst zwei Tage später.

Am Abend vor der Einweihung saß er mit Karsten Heinen an der Theke im „Mühlenhof“, dem einzigen Hotel in Ingenheim. „Ich war ja schon ewig nicht mehr in der Kneipe“, sagte Giovanni und bestellte sofort ein zweites Bier. Karsten klopfte ihm auf die Schulter. „Gut, daß du mitgekommen bist. Trink dir mal einen, vielleicht wirst du dann ein bißchen lockerer. Freu dich, morgen ist dein großer Tag! Mann, du warst ja so mies drauf  die letzte Zeit, seit Gisela weg ist!“
„Gerda“, verbesserte Giovanni. „Und ich war auch nicht mies drauf, WEIL sie weg ist, sondern obwohl. Sie ist mir nur noch auf die Nerven gegangen, ewig sollte ich mit ihr ins Kino oder ins Theater oder essen gehen. Sie hatte gar kein Verständnis dafür, daß der Ingenheimer Auftrag jetzt wichtiger war.“
„Ich dachte, ihr wart zusammen auf dem Konzert in Minden letzten Monat?“

„Ja, guck, das ist auch so eine Sache! Ich hatte Karten und alles, und sie: nein, auf so ein Konzert wolle sie nicht, immer das Gesinge, und sowieso, Kirchenmusik, davon habe sie genug, weil ich pausenlos diese eine ‚Schallplatte’ hörte – Schallplatte, verstehst du? Eine CD ist das, sage ich, und sie tobt: ja genau, EINE, ob wir etwa nur eine hätten, oder warum es verdammtnochmal immer dieselbe sein müsse! Also, wir haben uns nur noch gezankt die letzte Zeit, furchtbar. Nimmst du noch eins?“ Es tat gut, alles mal rauszulassen. Ja, heute ging es ihm prima. Die Brücke war fertig, die Zuwege sauber gekiest, der Festplatz vorbereitet, für Samstag hatte das Wetteramt Sonnenschein versprochen, und ein Team von Floristen würde in der Frühe alles in Weiß und Blau dekorieren. Nein, nicht alles. Für die Brücke selbst hatte Giovanni jeglichen Schmuck abgelehnt, sie sollte nackt da liegen und die Kerst überspannen, wie er, Giovanni Stollberg, sie geschaffen hatte. Sie war wunderschön, eine Königin, nein, eine Prinzessin, zierlich und scheu. Sie brauchte keinen Schmuck. Er hatte heute an jener Stelle bei der alten Weide am Ufer seines Flusses gestanden und versucht, sich zu erinnern, wie es hier ausgesehen hatte, als es noch keine Brücke gab. Eine schöne Gegend, kein Zweifel, vor allem jetzt im Frühling, die Bäume und Sträucher schon grün, am Feldrand blühte es Weiß und Gelb. Aber sie war leer gewesen, diese Landschaft, etwas hatte gefehlt, die Musik hatte gefehlt! Giovanni Stollberg war es gelungen, Landschaft und Architektur zu einem Lied zu komponieren, er hatte aus Natur und Technik Kultur erschaffen, aus Gefühl und Mathematik, genau wie der junge französische Musiker, der viel zu früh gestorben war.

Giovanni sprach und sprach, und Karsten Heinen hatte, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wovon. Was hatte der nur immer mit dem Lied? Irgendwas Lateinisches, auf jeden Fall was Altes. Und was sollte das mit dem Auftrag zu tun haben? Kein Wunder, daß seine Freundin abgehauen war. So einer wie Stollberg kam wohl besser alleine klar. Er ist ein netter Kerl, aber er spinnt halt ein bißchen; nicht schlimm, entschied Karsten im Stillen, denn das Bier stimmte ihn versöhnlicher, als es der Wein bei Gerti je geschafft hatte.

Ich komme wohl besser alleine klar, dachte Giovanni, der ganz zufrieden bemerkte, daß niemand ihn behelligte. Alle standen in Grüppchen herum, es wurde getrunken und gelacht und gefeiert, und der Bürgermeister grölte am lautesten. Man hatte IHM gratuliert, nicht Giovanni. Man hatte ihn das Band zerschneiden lassen, und er durfte als erster der Bürger die neue Brücke betreten. Danach waren alle andern gekommen, einmal rüber und wieder zurückgegangen, und dann wurde nur noch gesoffen. Die Blaskapelle und die Trachtengruppe waren längst abgezogen, Gott sei Dank. Giovanni ging ein Stückchen am Fluß entlang, setzte sich ins Gras und lehnte sich an den Stamm seiner Weide. Die Sonne wärmte schon richtig. Drüben lag seine Schöne, die Stahlseile glänzten, der silberne Finger zeigte direkt in den Himmel über der Stadt, und die Melodie schwang sachte zwischen den tragenden Stimmen. Von jetzt an, dachte Giovanni, werden sie trockenen Fußes das Wasser überqueren wie einst das Volk Israel in der Bibel, und er, Giovanni Moses Stollberg, hatte die Fluten geteilt.

Als er durch die fremden Straßen zurück zum Hotel ging, begann es zu nieseln. Der sanfte, kühle Regen erfrischte ihn, er legte den Kopf in den Nacken und ließ zu, daß jetzt die Alltagsgedanken zurückkehrten. Karsten fiel ihm ein, dem er eigentlich einen gemeinsamen Schlummertrunk versprochen hatte, Thomas Bouch, der Liebestod, und Gerda, für die er nicht der Richtige gewesen war. Ein Auto hupte, Giovanni sprang zur Seite wie ein junger Hirsch; leichtfüßig, frei, noch einmal davon gekommen.


© Bettina Rosky - (Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007)