„Davon glaube ich kein Wort!“

Max Delbrück in der Anekdote (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
Max Delbrück in der Anekdote (2)

 Von Ernst Peter Fischer

Der Reflex der Kniesehne
 
Noch einmal zurück zu Delbrück: In dem „Oxford Book of Scientific Anecdotes“ mit dem Titel „Eurekas and Euphorias“, das der in London tätige Zellbiologe Walter Gratzer herausgegeben hat, ist zu erfahren, daß Delbrücks beliebter Satz „I don´t believe a word of it!“ einen konkreten historischen Vorläufer hat. Das damit gemeinte ungläubige Staunen findet sich nämlich in genau diesen Worten bereits in den 1938 erschienenen Erinnerungen, in denen der in den USA geborene, aber in England lebende Schriftsteller Logan Pearsall Smith seine „Unforgotten Years“ im 20. Jahrhundert beschreibt. Smith erzählt darin unter anderem von Benjamin Jowett, der als Professor für antike Sprachen in Oxford unterrichtete und zeit seines Lebens mehr von alten Traditionen als von neuen Forschungsergebnissen hielt, auch wenn die aus dem 19. Jahrhundert stammten. Als er zum ersten Mal von der 1875 in Deutschland gemachten Entdeckung des Kniesehnenreflex hörte, bei dem ein leichter Schlag auf die Patellarsehne unterhalb des Knies zu einer Streckung des Kniegelenks führt, was den Unterschenkel in die Höhe hüpfen läßt, schüttelte der Sprachgelehrte sein weises Haupt und rief aus, „I don´t believe a word of it!“ Er glaubte einfach nicht, daß ein Nervensystem derart vorhersagbar funktionierte und mit ein wenig Schwung von außen derart wirkungsvoll angestoßen werden konnte. Allerdings stellte sich der zweifelnde Gräzist nicht lange stur. Er forderte vielmehr den Überbringer der ihm komisch erscheinenden Nachricht auf, ihm einen entsprechenden Schlag auf die Kniesehne zu versetzen und staunte dann dermaßen über sein in die Höhe schnellendes Bein, daß er insgesamt seine Einstellung der naturwissenschaftlichen Forschung gegenüber änderte und von nun an neugierig auf weitere neurologische Ergebnisse und motorische Reflexe wartete. Nicht nur der Geist, auch der ihn beherbergende Körper kamen dem gelehrten Humanisten jetzt wunderbar vor, ohne dessen zumindest muskuläre und andere materielle Hilfe bekanntlich niemand sprechen kann, und wahrscheinlich am allerwenigsten Griechisch, auch wenn dessen Klang dem Geist noch so sehr behagt.
 
Ein persönliches Intermezzo
 
Ganz zuletzt soll dieses erste Kapitel mit persönlich erlebten Anekdoten und dem dazugehörenden Hinweis schließen, daß der Autor in den 1970er Jahren der letzte Doktorand von Delbrück am Caltech in Pasadena war und dessen Davon-glaube-ich-kein-Wort-Skepsis am eigenen Leib erfahren konnte (mehr Geschichten dazu findet man in meiner Delbrück-Biographie „Licht und Leben“, die es auch als Taschenbuch mit dem Titel „Das Atom der Biologen“ gibt). Dies passierte, als ich ihm eines Tages von meiner Beobachtung erzählte, daß der kleine Pilz, mit dem in Delbrücks Laboratorium gearbeitet wurde, seine Stängelchen beim Wachsen dem Experimentator entgegen krümmte, wenn man diese als „Sporangiophoren“ bezeichneten Strukturen nur vorsichtig genug anpustete und keinen Sturm dabei entfachte (Abbildung: Phycomyces). Delbrück konnte nicht glauben, daß das primitiv wirkende winzige Lebewesen derart windsensitiv war und so empfindsam reagierte, doch das geschilderte – und sich bald als reproduzierbar erweisende, also als real erhärtende und dann auch untersuchungswerte – Phänomen ließ ihn nicht los, weshalb er seinen Studenten spontan abends zum Dinner einlud. Zwar konnte man beim Essen im familiären Kreis selbst nicht viel über die Wissenschaft reden – außer zu verabreden, dem Windphänomen weiter auf den Fersen zu bleiben, wie es dann auch geschehen ist –, aber im Haushalt der Delbrücks gab es keinen Geschirrspüler, weil der Hausherr es liebte, mit seinen Gästen beim Abwasch zu plaudern. Da konnte man nach dem kulinarischen Genuss ganz entspannt dem geistigen Vergnügen nachgehen, entweder trickreiche Experimente zu entwerfen oder weinselig seltsame Gedanken vorzutragen, von denen manch einer auch am nächsten Tag noch Gültigkeit beanspruchte, wenn man sich wieder im Laboratorium herumtrieb und weiter mit seinen Untersuchungsobjekten arbeitete und an ihnen forschte. Falls einem dabei sogar erneut eine komische Beobachtung gelang, konnte man schnurstracks zu Delbrück laufen, der oftmals in seinem Büro zu finden war. Auf dessen Tür stand in großen Buchstaben „Enter without knocking“, und darunter etwas kleiner, „If you can“. „Herein ohne anzuklopfen“, könnte man vielleicht auf Deutsch sagen, wobei die sich anschließende Mahnung „Falls Du es schaffst“ mehr zur Ermutigung gedacht war und sich der Tatsache verdankte, daß die Tür erstens ziemlich schwer war und zweitens oftmals klemmte. Aber wer sie öffnen wollte und kräftig zupackte, konnte einfach in das Zimmer hineingehen und seine Botschaft loswerden, allerdings erst, nachdem man in dem dort wartenden knallgelben Sessel Platz genommen hatte, der merkwürdig tief einsank, nachdem man Delbrücks Aufforderung gefolgt war und sich gesetzt hatte. Seine Augen blitzen dann auf, er lächelte in aufrechter Haltung von oben den jetzt von weit unten aufblickenden Delinquenten an, der in dieser Situation allen Mut brauchte, um seinen Bericht abzuliefern, und nicht überrascht sein durfte, wenn er zuletzt wieder Delbrücks liebsten Satz zu hören bekam, „Davon glaube ich kein Wort!“
 
Der schlechteste Vortrag
 
Zwar hätte man manchmal gern ein direktes Lob von Delbrück gehört, doch meistens trieb er seine Studenten mit unangenehmen Bemerkungen an, was einem letztlich nur Vorteile bringen und retrospektiv auch gefallen konnte. Unangenehm hart konnte sein Urteil aber auch werden, nämlich dann, wenn Delbrück es am Ende eines Seminarvortrags äußerte, der ihm kein Vergnügen bereitet hatte und den er wenig hilfreich fand. Meist fügte er ganz zuletzt noch hinzu, „Das war der schlechteste Vortrag, den ich je gehört habe“. Einige Freunde meinten auch dann noch, daß er dies vor allem sage, um den Kritisierten beim nächsten Mal zu besseren Leistungen zu motivieren. Denn wenn der Vortrag wirklich schlecht gewesen wäre, hätte Delbrück den Saal vor seinem Ende verlassen, und zwar so, daß jeder sehen konnte, wohin er ging. Im Übrigen liebte er es, wenn man versuchte, seine großen oder groben Witze zu toppen und sich zu wehren. Gelungen ist dies zum Beispiel dem Biophysiker George Feher aus San Diego, der eines Tages vom CalTech zu einem Vortrag eingeladen war. Feher bedankte sich und sagte, er käme aber nur, wenn er zwei Vorträge halten dürfe. Auf die erstaunte Rückfrage, warum er denn so etwas verlange, antwortete der Biophysiker, er wolle wenigstens einen Vortrag halten, von dem Delbrück nicht sagen könne, daß sei der schlechteste Vortrag, den er je gehört habe. Der Ausgetrickste reagierte begeistert und kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. Doch dabei sann er wahrscheinlich längst auf Rache.               
 
 
 
© Ernst Peter Fischer
Aus: „Davon glaube ich kein Wort!“
Anekdoten und Geschichten aus der Welt der Wissenschaft