Erotik in den Märchen der Brüder Grimm?

Eine immer erneut diskutierte Frage

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Erotik in den Märchen der Brüder Grimm?
 
Eine immer erneut diskutierte Frage
 
Von Heinz Rölleke
 
Der Titel „Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm“, unter dem die erste seriöse und später weltberühmte Märchensammlung um Weihnachten 1812 erschien, war nicht glücklich gewählt. Den Grimms war bewußt, daß Märchen Jahrhunderte lang Geschichten von Erwachsenen für Erwachsene waren. Nach der Aufklärung glaubte man indes allgemein, Märchen seien entweder volksverdummende Literatur oder nur noch etwas für Kinder. Diesem Aspekt wollte der spagatartige Titel entsprechen und natürlich zugleich im biedermeierlichen Publikum viele Käufer ansprechen.
 
Unmittelbar nach Erscheinen des Buches wurden Stimmen laut, die an scheinbar anstößigen, für Kinder unzukömmlichen Passagen Kritik übten. Wilhelm Grimm gab dieser Kritik sofort nach, indem er in den Folgeauflagen die inkriminierten Details ersatzlos strich oder abänderte: So wurde der diskrete Hinweis auf Rapunzels Schwangerschaft ungeschickt genug umgangen, obwohl natürlich auch in den späteren Ausgaben infolge der Rendezvous im Turm Zwillinge geboren werden: Bevor die Prinzessin ohne Weiteres „vergnügt“ zu ihrem entwandelten Froschkönig in ihr Bett steigt, wie es zunächst hieß, wird später zuvor eine Einverständniserklärung und eine Trauung durch den Vater eingefügt, und von einem Bett ist schon gar keine Rede mehr. Dagegen blieb Jacob Grimm unverrückbar bei seiner Meinung, die Märchen enthielten überhaupt keine erotischen oder gar obszönen Anspielungen, die hätten erst lüsterne und übelwollende Erwachsene hinein interpretiert. So konterte er die Kritik seines Freundes Achim von Arnim, der im Märchen vom Fuchs mit den neun Schwänzen mit Recht die Nacherzählung einer französischen Zote erkannte, mit der entwaffnenden Behauptung, er habe das Märchen schon als Kind geschätzt: „Ich wollte in die Seele dieses Märchens hinein schwören, daß es rein und unschuldig ist.“ Zwar ließ er sich herab, in der Vorrede zur 2. Auflage von 1819 zu konzedieren, „jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht“ zu haben, ohne indes den Charakter des gesamten Buches anders zu beurteilen: „Übrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenklichkeiten nicht in ungleich größerm Maß einträten“ - dabei folgt er übrigens einer Maxime Martin Luthers, mit der dieser den jungen Leuten den Besuch selbst obszöner Komödien empfiehlt, sonst dürften sie ja auch wegen ähnlicher „Zoten und Bübereien die Bibel nicht billig dürften lesen.“
 
In der Mitte des 19. Jahrhunderts schlug diese Kritik bei einigen auf Erotik erpichten Lesern ins Gegenteil um: Die Grimms hätten die
ursprünglichen Märchen voll schöner Erotik unverantwortlich kastriert und so deren eigentlichen Sinn und Zweck zerstört. Alexander von Sternberg stellte um 1850 seine mit eigenartiger Lüsternheit aufgeladenen „Braunen Märchen“ als die angeblich unverfälschte Volksüberlieferung vor. 1908 (und später u.a. in weitverbreiteten Taschenbuchnachdrucken z.B. der Verlage Scherz, Goldmann, Knaur oder Heyne) folgte eine Veröffentlichung von 33 zu platten und langweiligen Zoten umgeschriebenen Grimm'schen Märchen mit einer unfassbar törichten bzw. die Leser für dumm verkaufenden Titelei:         
 
            „Johann Chr. Spielnagel: Zauberflöte und Honigtopf. Erotische Märchen. In den Märchen unserer Vorfahren ging es um die handgreifliche, laut- und luststarke, ganz und gar irdische Liebe, Beweis: die hier vorliegende, in jahrelangem Bemühen wiederhergestellte Urfassung der berühmtesten deutschen Märchen. Spielnagel gilt als einer der bedeutendsten Märchenforscher der Gegenwart, 'Zauberflöte und Honigtopf' als seine reifste wissenschaftliche und schriftstellerische Leistung.“
 
Der Schmarrn verwirrt bis heute viele Märchenliebhaber und vor allem immer noch und immer wieder einige Medienvertreter, die auf solche sensationellen „wissenschaftlichen“ Entdeckungen der eigentlichen Geschichten geil sind, in denen in einem schauderhaften Stil weder von Märchen noch von Liebe, nicht einmal von Erotik, sondern nur von purer Sexualität in teilweise abstoßender Form die Rede ist. Hätte man sich auf erotische Erzählungen oder Märchen kapriziert, wäre man bei Boccaccio, Straparola oder Basile leicht fündig geworden und hätte die künstlerisch wertvollen Bücher aus dem 14., 16. und 17. Jahrhundert im Original oder zeitgemäßen Modernisierungen auf den Markt bringen können. Doch so wird ständig neu ernsthaft gefragt, warum die Wissenschaft die Urfassungen der Märchen der Grimms genau so wie diese selbst, dem Leser vorenthielten.
 
Bei der Kritik an der Verfahrensweise der Märchenredaktionen durch die Brüder Grimm werden solcherart Machwerke herangezogen, durch keine Zeile aus den kritisierten Märchen belegt und zu unbeweisbaren Pauschalbehauptungen aufgebauscht. So etwa im jüngst erschienenen Buch der berühmten englischen Märchen'expertin' Marina Warner (deutsche Übersetzung 2017), das in amerikanischen und deutschen Medien ohne jede Einschränkung hoch gelobt wird: Wilhelm begann die Geschichten „zu reinigen. Vor allem zensierte er die offen sexuellen Anspielungen.“ Von einer solchen Art „Anspielungen“ findet sich rein gar nichts in den Erzählungen, wie sie den Brüdern Grimm seit 1807 zukamen.
 
Allerdings waren im Lauf jahrhundertelanger Märchenüberlieferungen zahlreiche drastische Erotika sowie entsprechende Anspielungen getilgt oder abgemildert worden, und in dieser Hinsicht taten die Brüder Grimm ein übriges, die Geschichten nach den zeitgenössischen Auffassungen und den Gesetzen der herrschenden Prüderie den nun überwiegend kindlichen Rezipienten anzupassen. Dafür kann man als Beispiel etwa die Aufwachszene im „Dornröschen“-Märchen heranziehen.
 
            Basile (1634): Ein König findet auf der Jagd zufällig die schlafende „bezaubernde Prinzessin; von ihrer Schönheit durch und durch erglüht, trug er sie in seinem Arm auf das Lager und pflückte dort die Früchte der Liebe“ - ohne daß Aurora erwacht (nach neun Monaten gebiert die immer noch Schlafende Zwillinge, ehe sie durch diese „Früchte der Liebe“ aus ihrem Schlaf erweckt wird).
 
            Perrault (1697): Ein Prinz „sieht auf einem Bett den schönsten Anblick, den er je gesehen hat: eine Prinzessin, die 15 oder 16 Jahre alt zu sein schien, und ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. Da erwachte die Prinzessin, und indem sie ihn mit zärtlicheren Augen ansah, sagte sie: 'Seid Ihr es, mein Prinz? Ihr habt lange auf Euch warten lassen.' Und dann verlor man keine Zeit mehr. Sie schliefen allerdings nicht viel in dieser Nacht, denn die Prinzessin bedurfte dessen nicht so sehr, und der Prinz - - - verließ sie am Morgen.“
 
            Grimms Märchenniederschrift (1810): Der Prinz „küßte die schlafende Prinzessin und alles erwachte und die zwei heirateten sich.“
 
            Erstdruck des Märchens (1812): „Da lag Dornröschen und schlief. Da war der Königssohn so erstaunt über ihre Schönheit, daß er sich bückte und s i e küßte, und in dem Augenblick wachte sie auf und der ganze Hofstaat.“
 
            Ausgabe letzter Hand (1857): „Wie er e s mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf.“
 
Während Basile die Sache barock-vollsaftig zur Sprache bringt, bietet Perrault mit den drei beziehungsreichen Gedankenstrichen im Stil des rokokohaften Ideals eine verdeckte, feine, aber eindeutige Anspielung auf die Freuden der ersten Liebesnacht.
 
In der französischen und deutschen Volksüberlieferung des Perrault-Textes war daraus bis zur Grimm'schen Aufzeichnung eine eher biedermeierlich distanzierende Szene geworden, wobei im Lauf der folgenden Auflagen des Märchenbuchs das heiratsfähige Dornröschen sogar aus einer „sie“ zu einem kindlich geschlechtslosen „Es“ mutierte, und der Prinz nicht mehr herzhaft küßte, sondern sich nur noch eine keusche 'Berührung' mit dem Hauch eines angedeuteten Kusses gestattete. Von einem Lager oder gar einem Bett Dornröschens war zunächst wenigstens noch andeutend die Rede, wenn der Prinz sich zur Schlafenden herabbückte. Davon ist am Ende jede Spur verschwunden.
 
Bezeichnend sind die zwei langen Texteinschübe, die Grimm ganz unabhängig von jeder Tradition beim Einschlafen und beim Aufwachen des Hofstaats geschaffen hat, um den Lichtkegel der Aufmerksamkeit von dem zu verfänglichen Schlafzimmer-Rendezvous der jungen Leute im Turmgemach des schlafenden Schlosses auf den Innenhof zu lenken, wo das Leben nach 100 Jahren weitergeht, als wäre nichts geschehen, die Pferde sich rüttelten, die Jagdhunde wedelten, die Tauben flogen, die Fliegen krochen, das Feuer flackerte, der Braten brutzelte, der Koch seine Ohrfeige zu Ende führte und die Magd das Huhn fertig rupfte - meisterhaft erfundene und erzählte, überaus häufig illustrierte Miniaturszenen, die kein Mensch vergißt, der sie je als Kind gehört oder gelesen hat. Das Verschleierungsmannöver ist voll geglückt!
 
Bei der Kritik am Grimm'schen verfahren in Sachen Erotik wird völlig übersehen, daß es sehr wohl auch behutsame Textänderungen in

Thomas Schleusing pinx. - © Brigitte Schleusing
umgekehrter Richtung gibt. Als (neues) Hüllwort für Erotisches dient in jeder Märchenauflage zunehmend das Adverb „vergnügt“, das man fast überall getrost in diesem Sinn verstehen mag.
 
Schon im Text Nr. 1 („Der Froschkönig“) sind neue Spuren subtiler Erotik auszumachen. Die Prinzessin trifft ihren künftigen Bräutigam an einem Brunnen im Wald. Er wirft ihr die im Wasser verlorene Kugel zu, stillschweigend hoffend, daß sie das Ballspiel aufnimmt und ihm das goldene Spielgerät zurückwirft; ein im Mittelalter eindeutiges erotisches Angebot, dem sich das Mädchen noch nicht gewachsen fühlt. Minneszenen im Freien plazierten die Dichter vom 12. bis ins 18. Jahrhundert an einem sogenannten locus amoenus: vor/ in einem Wald, an einer Wasserquelle, unter einer Linde. „Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was“, beginnt das berühmteste Liebesgedicht Walthers von der Vogelweide. Und siehe da: Der Germanist Wilhelm Grimm setzt in diesem Sinn - sonst völlig unmotiviert - eine Linde in den Märchenwald, die in den ersten Textfassungen noch völlig fehlte: „Nahe bei dem Schlosse des Königs, lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen.“ Aus der Szenerie eines harmlosen Kinderspiels ist für den Kenner eine feinsinnig-hintergründige Anspielung auf ein sich anbahnendes erotisches Verhältnis geworden. Dafür wurde im Zuge zunehmender Prüderie, wie bereits gesagt, sogar die Erwähnung des Bettes aus dem Märchen gestrichen, weil für kindliche Ohren nicht zuträglich (ein sehr harmloser Eingriff, wenn man bedenkt, daß die Zensur noch nach 1910 verbot, dem Publikum der Oper „Der Rosenkavalier“ in der ersten Szene ein Bett auf der Bühne zu zeigen!).
 
Man hüte sich bei jeder Art von Literaturbetrachtung vor Pauschalurteilen; das gilt besonders für Fragen an die so häufig ohne genaue Berücksichtigung der Texte und ihrer Entwicklung interpretierten Grimm'schen Märchen – auch und gerade in Sachen Erotik.
 


© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019


Und wenn sie nicht... - Thomas Schleusing pinx. - © Brigitte Schleusing

  Redaktion: Frank Becker
Die Illustrationen stellte freundlicherweise Brigitte Schleusing zur Verfügung.