Nicht sofort und ohne weiteres

Julie Zeh – „Neujahr“

von Johannes Vesper

Nicht sofort und ohne weiteres
 
Ein Psychogramm
 
Fahrradfahren auf Lanzarote, bei Sonne gegen den Wind: Damit vergnügen sich Hobbysportler. Die Ebene steigt zunächst nur wenig an, aber das Gebirge kommt näher und Henning, vierzig Jahre alt, hoch motiviert, geht bei zunehmender Anstrengung so alles möglich im Kopf herum. Er weilt mit seiner Frau Therea und seinen Kindern für 2 Wochen über Weihnachten und Silvester auf der Insel. An diesen schönen Neujahrstag macht er mal etwas für sich und hofft, daß seine anfallsweise auftretenden Herzrhythmusstörungen wegbleiben. Zu diesem Urlaub hatte er seine Frau überredet, hatte selbständig immer wieder im Internet Ferienwohnungen und weiße Villen mit herrlichen spanischen Gärten auf der Insel angeklickt. Jetzt zog er mit dem Rad daran vorbei, hätte gerne darin gewohnt und glaubte an großartige Ferien, obwohl er in einem Anflug von Vernunft nur eine bezahlbare Ferienwohnung gemietet hatte, die besser zu den ökonomischen Verhältnissen der Familie paßte. Trotz doppelten Einkommens konnten sie sich große Sprünge nicht leisten und seine Frau im Steuerbüro verdiente sogar etwas besser als er. Als Direktor eines kleinen linken Verlages nicht sehr gut bezahlt, engagierte er sich aber mehr bei der Hausarbeit, was Theresa allerdings auch erwartete. Beim Silvesterdinner gestern Abend in einem Touristenhotel flirtete sie heftig und tanzte eng mit einem Franzosen. Er selbst hatte sich mit einem älteren Ehepaar unterhalten müssen, welches ihrem Tische zugelost worden war. Warum hatte seine Frau im Bett anschließend nichts von ihm wissen wollen? Was war passiert? War er eigentlich glücklich? Solange alles funktionierte, ging es ihm nicht schlecht, glaubte er. Ist Glück nur funktionierende Routine? Liebte er seine Kinder? Seine Frau? An sich hatte er aus seinem Leben etwas machen wollen. Im neuen Jahr – heute war der 1.1. - wollte er jedenfalls vieles ändern. Das wurde klar und klarer bei zunehmender Steigung und jedem zunehmend anstrengenderen Pedaltritt. Seine freie Zeit verbrachte er vor allem mit den Kindern, die unterhalten werden wollen und müssen, immer. Freunde, Musik sollten aber wieder eine größere Rolle in seinem Leben spielen. Unter seinen Herzrhythmusstörungen litt er seit einigen Jahren. Kardiologisch hatte sich kein signifikanter Befund ergeben. Burnout sagt Theresa, vielleicht aber auch eine generalisierte Angststörung. Trotz seiner liebevollen Blicke auf Theresa und die Kinder empfand er sich als merkwürdig emotionslos und fürchtete den Verlust jeder Verständigung mit seinen Lieben. Kann sich seine Lebenssituation durch Einteilung, Lastenverteilung und Verständnis für Theresa noch glücklich entwickeln? Die Straße steigt in Serpentinen an. Wegen der Anstrengung hebt er selten den Kopf von der Straße und wie im Traum steigt bedrohlich die schwarze schattige Felswand vor ihm auf.
 
Also in der ersten Hälfte dieses schmalen Romans (191 Seiten) kämpft Henning am 1.1. des neuen Jahres mit seinem eigentlich nicht geeigneten, geliehen Rad gegen den Steilanstieg und denkt dabei in sich hinein wie bei einer Selbstanalyse. Was war eigentlich mit seiner Schwester? Mit ihrem katastrophalen Leben, mit ihren ständig wechselnden Männern und Wohnungen, ihrer Erfolglosigkeit als Schriftstellerin war sie ständig pleite, immer wieder auf tatkräftige und finanzielle brüderliche Hilfe angewiesen, und nervte sie vor allem Theresa. Wieder müssen Pedalkraft, Schaltung und Umdrehungszahl der starken Steigung angepaßt werden. Was hat es auf sich mit seinen Herzbeschwerden, seinem ES, seinem Pochen in der Magengrube? Was ist er für einer? War er krank? Weshalb stört ES ihn so? Hat er Angst? Wie bewältigt er, der als differenzierter Lebenspartner für die Berufstätigkeit seiner berufstätigen Frau und ihrer Emanzipation Verständnis aufbringt, sein Leben mit fordernden Kindern? Die Einsamkeit des Radfahrers wirft Fragen über Fragen auf.
 
Die zweite Hälfte des Romans bringt die Lösung. Henning hat mit seiner Schwester ein furchtbares Kindheitserlebnis erlebt, welches aus seiner Erinnerung oben am Paß aufsteigt und er alptraumartig nacherlebt. Das furchtbare Kindheitstrauma war in der Tiefe seines Unbewußten, seines ES, verschüttet aber persönlich stets wirkmächtig geblieben. Die Katastrophe breitet die Autorin lange und ausführlich auf vielen Seiten aus. Hennings Mutter hatte Kiesel bemalt, zu Skarabäen umgeformt, die Glück bringen sollten. Daß Skarabäen Dungkugeln vor sich her wälzen, wußte sie vielleicht nicht. Jedenfalls hat Henning nach seiner kindlichen Traumatisierung psychische Scheiße vor sich her gewälzt und zwar jahrelang und unbewußt. Nach dem Urlaub zurück in Deutschland, spricht Henning mit seiner Mutter, die geglaubt hatte, die Traumatisierung könne durch Zeit und Vergessen gnädig verdrängt werden, spricht auch mit seiner traumatisierten Schwester. Kann er sich retten? ES, in Form von quälenden Herzrhythmusstörungen, verschwindet jedenfalls auch nach Bewußtwerden der psychischen Katastrophe nicht sofort und ohne weiteres.
 
Julie Zeh, geboren 1974 faßte als Achtjährige erstmalig den Vorsatz zu schreiben. Nach acht Tagen endeten diese Eintragungen, ihre Faszination für Geschriebenes aber nicht. Seit 2001 schrieb sie zahlreiche Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Ihr literarischer Erfolg schlug sich in etlichen Literaturpreisen nieder. Zur Energiewende bzw. zum Umgang einer provinziellen, dörflichen Gesellschaft damit erschien 2016 „Unter Leuten“. Immer auch journalistisch und politisch aktiv, wurde die promovierte Volljuristin und Mutter zweier Kinder im Dezember 2018 zur ehrenamtlichen Richterin ans Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.
 
Julie Zeh – „Neujahr“
© 2018 Luchterhand Verlag, 2. Auflage, 191 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-630-87572-9,
20.- €, auch als eBook erhältlich.
Weitere Informationen:  www.randomhouse.de