Schicksale

Eine Trilogie - Teil 1

von Karl Otto Mühl
Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Schicksale

Wer behauptet, Frauen zu verstehen, hat wahrscheinlich Theorien bereit. Immer schlecht. Mein Freund Jan hat viele solche.
Aber Frauen wollen weniger verstanden als geliebt werden, könnte ich mir denken. Sie werden sich selbst nicht im Sinne vorliegender Muster verstehen. Was sollen sie auch versuchen, sich ein Bild von sich selbst zu machen, das sie nur in einer ihrer  wichtigen Fähigkeiten, die Männer anbetrifft, stören würde, nämlich, zu verlocken, zu erobern und festzuhalten. Männer wollen dasselbe umgekehrt, nämlich, gelockt, erobert und festgehalten werden - ja, auch das, nur mancher immer wieder von einer anderen. Obwohl Jan behauptet, natürlich seien wir Männer  die Eroberer. Man sollte ihn bei diesem Glauben lassen.
So geht das alte Spiel. Der liebe Gott hat es erfunden, und wir alle spielen es mit.
Er hat die Frauen so gemacht, daß Männer nicht anders können, als sie einfach gern haben, zu lieben, also das Weibliche an ihnen. An allen, die nett sind. Aber bedauerlicherweise hat er auch Vorschriften erlassen, an die sich zu halten nicht immer wohltuend  ist, aber immer richtig, und zumindest gottesfürchtig.
Denn, Spiel hin, Spiel her, er hat dazu auch das Schicksal erfunden, das die Karten immer wieder aufs  Neue mischt, und so kommt es, daß fast keines unserer Spiele aufgeht.

Schicksale
I.
Wie bei Gerda, die mich gestern anrief. Sie ist die Tochter eines älteren Kollegen, ich kannte sie noch als Kind. Ich sehe sie noch brav als junges Mädchen mit uns Erwachsenen am Tisch sitzen, als wir einmal alle zusammen essen gingen. Inzwischen ist sie schon eine ältere Dame, aber sie hat mir immer alles erzählt, was in ihrem Leben passierte.
Der erste Ehemann war ein Australier, er hatte schon eine Tochter, die sie heute noch besucht. Der Ehemann lief fort, heiratete eine andere.
Der zweite Ehemann, Ronny, war ihr Betriebsleiter in England, mit dem tat sie sich zusammen, aber es gab jahrelange Schwierigkeiten mit den Papieren, ehe sie heirateten.
Sie zogen zusammen nach Würzburg, wohin ihr Mann versetzt wurde, lebten friedlich und freundlich zusammen, machten Reisen.
Aber da war der Chef in Gerdas Firma, ein mächtiger Mann, der sie umwarb. Es dauerte lange, ehe sie nachgab, aber von da  an genoß sie doppeltes Liebesglück. Der Chef  mietete ein Liebesnest eine Straße weiter von Gerdas Wohnung, sie hatte also gut zu tun mit Hin- und Herlaufen. Ronny war inzwischen pensioniert, hatte sehr an Gewicht gewonnen und verließ immer seltener das Haus.
Aber die Zeit war in Fünf-Jahres-Sprüngen davon gehüpft. Ronny bekam einen Schlaganfall. Gerda pflegte ihn, bis es nicht mehr ging, brachte ihn ins Altersheim, besuchte ihn fast täglich, holte ihn sonntäglich nach Hause, vergaß darüber aber auch ihren Chef-Liebhaber nicht.
Aber beim nächsten Zeitsprung starb Ronny. Zum ersten Male nahm sie wahr, wie schlecht ihr Chef-Liebhaber inzwischen aussah. Die Gewissenskonflikt, die Auseinandersetzungen mit seiner Frau, an der er hing und vor der er Angst hatte, zermürbten ihn. Das konnte sie freilich nur ahnen. Sie hatte ihn selten gedrängt, aber doch manchmal gefragt: Was willst du eigentlich? Das müßtest du doch wissen.
Vielleicht dachte er, daß er dies überhaupt nicht wissen mußte. Es waren die anderen, die es erwarteten. Die Welt, das sind die anderen.
Vier Wochen nach Ronnys Tod starb auch der Liebhaber.

Das Spiel war zu Ende. Ich bin froh, daß ich meine Freundinnen habe, sagte sie zu mir. Und daß mich die Stieftochter immer besucht.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008