Gottfried Keller 200 Jahre

Eine Leseempfehlung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Gottfried Keller 200 Jahre

Eine Leseempfehlung
 
Von Heinz Rölleke
  
Es wird im Jahr 2019 mit großem Aufwand an den 200. Geburtstag Theodor Fontanes erinnert. Darüber sollte das gleiche Jubiläumsjahr eines der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller nicht zu kurz kommen, zumal 2019 auch des Todestages des Siebzigjährigen zu gedenken ist: Der Schweizer Dichter Gottfried Keller lebte vom 19. Juli 1819 bis zum 15. Juli 1890.
 
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts galt Keller nach Einschätzung vieler Experten und einer breiten Leserschaft als größter deutschsprachiger Dichter nach Goethe. Der Deutschunterricht an den Höheren Schulen versuchte dem Rechnung zu tragen, indem man vor allem einige Keller'sche Novellen - nicht eben in kluger Auswahl und viel zu früh – jahrzehntelang ungeprüft auf dem Lehrplan beließ. „Pankraz der Schmoller“ oder „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ waren und sind in der Erinnerung der meisten Schüler eine sie wenig ansprechende und vor allem langweilige Lese- und Interpretationserfahrung. So konzentrierte sich die öffentliche Wertschätzung zunehmend auf den nach Goethes „Wilhelm Meister“ bedeutendsten Entwicklungsroman „Der grüne Heinrich“, dessen beide autobiographisch geprägte Fassungen aus den Jahren 1854/55 und 1879/80 unbedingt als aufeinanderfolgende Lektüre zu empfehlen sind, obwohl der alte Dichter die Hand zum Verdorren verflucht hat, die noch einmal den Roman in seiner ersten Fassung nachzudrucken wagen sollte. Beide Fassungen des Romans bieten dem erwachsenen Leser eine unerschöpfliche Fülle zeitloser, stets modern anmutender allgemeiner Lebenserfahrungen und Einsichten in den Verlauf einer auch entwicklungspsychologisch hochinteressanten persönlichen Biographie mit ihren sozialen, politischen, theologischen und philosophischen Begleiterscheinungen. Unter anderen wird hier zum ersten Mal konsequent und schonungslos durchdacht und diskutiert, wie allgemeine Moralvorstellungen und Bewertungen des Daseins als lebenswert ihren Sinn a priori gewinnen können, auch wenn man wie der Autor seit seinen Heidelberger Studien im Winter 1848/49 beim radikal atheistischen Philosophen Ludwig Feuerbach die Existenz eines Schöpfergottes und dessen Rolle etwa als lohnende und strafende Instanz konsequent leugnet. An die Stelle des Gotteslobes tritt die umfassende Liebe zur Schöpfung („An dich, du wunderbare Welt, / Du Schönheit ohne End, / Auch ich schreib meinen Liebesbrief auf dieses Pergament“), und an die Stelle der Spekulation über Lohn und Strafe in einem Jenseits tritt auf Erden die um ihrer selsbt willen gelebte Moral – nicht vor den Augen und nach Maßgabe eines göttlichen Richters („Die Welt ist eine Republik und erträgt weder einen absoluten nch einen konstitutionellen Gott“).
 
In ergreifender Weise hat Keller diese Weltsicht später in einigen Meisternovellen (zum Beispiel „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ oder „Kleider machen Leute“) gestaltet, worunter das köstliche Kunstmärchen „Spiegel das Kätzchen“ eine der bündigsten Rechtfertigungen der bereits von Georg Büchner oder Karl Marx vorausbedachten, dann durch Bert Brecht festschriebenen Maxime („Erst kommt das Fressen, dann die Moral“) ist.
 
Während der langjährigen Rezeption der Keller'schen Schriften wurde eine Perle fast gänzlich übersehen: „Sieben Legenden“, ein 1872 erschienener Novellenzyklus nach dem 847 Seiten umfassenden Buch „Legenden“ des Pietisten Ludwig Theobul Kosegarten (Gotthard Ludewig Kosegarten) aus dem Jahr 1804. Kosegarten, von dem Schiller zynisch sagte, Gott habe ihm „ein ehern Band um die Stirne geschmiedet“, war Herders Idee gefolgt, alte Heiligenlegenden einer modernen Ausdeutung näher zu bringen. Es geriet ein Gebräu von „sauersüßen Düften, die schwindelig machen“, daraus, wie die zeitgenössische Kritik mit Recht monierte. Fast siebzig Jahre später nahm sich Keller des vielgeschmähten und dann vergessenen Werkes an und schrieb auf seine Weise sieben der langatmigen Legenden in kurzweilige Novellenform um, wobei er den in seinen Umformungen meist durchaus irdisch gesinnten Heiligen in Thomas Mann'scher Manier mit sanfter Ironie begegnet und die Wunderhandlungen gänzlich ins Irdische verlegt. Die Madonnenwunder im Milieu gefallener Nonnen oder gefährdeter Frauen zielen ausschließlich auf irdisches Glück, nie auf Rettung einer Seele für den Himmel ab. Meisterwerke des Oszillierens zwischen heiligem Personal und handfester weltlicher Erotik sind etwa „Der schlimm-heilige Vitalis“ oder „Die Jungfrau und der Teufel“. Letztere Geschichte handelt von einem ruchlosen Grafen, der seine brave Gattin dem Teufel verschreibt, wenn der ihm dafür weiteren Reichtum verspricht. Als die arme Bertrade zum verhängnisvollen Rendezvous, bei dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach der leibhaftige Teufel holen würde, aufbricht, unterwegs aber in einem Marienkirchlein ein Gebet verrichtet, überfällt sie die Bewußtlosigkeit eines langen Schlafes. Die Madonna nimmt ihre Gestalt an und eilt zum Ort des verhängnisvollen Stelldicheins:
 
            Der Teufel warf sich leidenschaftlich an die Brust des schönen Weibes; doch in demselben Augenblick nahm die heilige Jungfrau ihre göttliche Gestalt an und schloß den Betrüger fest in ihre leuchtenden Arme. Dieser rang mit Titanengewalt, sich aus der qualvollen Umarmung los zu winden. Die Jungfrau hielt sich aber tapfer und entließ ihn nicht, obgleich sie alle Kraft zusammennehmen mußte. Allein der Böse nahm plötzlich die Schönheit an, welche er einst als der schönste Engel besessen, so daß es der himmlischen Schönheit Marias nahe ging. Im beginnenden Kampf glänzt sie wie die Venus, der Abendstern, der Teufel wie Luzifer, der helle Morgenstern. Als die Jungfrau merkte, daß sie zu viel unternommen und ihre Kräfte schwanden, begnügte sie sich, den Feind gegen Verzicht auf die Grafenfrau zu entlassen, und alsbald fuhren die himmlische und die höllische Schönheit auseinander mit großer Gewalt. Die Jungfrau begab sich etwas ermüdet nach ihrem Kirchlein zurück.“
 
Wie in manchen seiner Legendenumformungen geht der Streit zwischen Himmel und Hölle schlichtweg unentschieden aus. Es ist nicht nur die Macht des Teufels, durch die sich die Madonna bedrängt fühlt, sondern vor allem seine unwiderstehliche erotische Anziehungskraft in der männlichen Lichtgestalt des schönsten aller Engel. Allein sein Anblick läßt für Augenblicke die Knie der heiligen Jungfrau erzittern. Die Heiligen sind nicht ganz ohne irdische Schwächen und Anfechtungen, und fast immer zeigt sich der Böse als gleichwertiger Gegner, der nie gänzlich auszuschalten ist.
 
Die schon an die zweitausend Jahre diskutierte abendländische Grundproblematik, wie die Werte der heidnischen Antike mit den Idealen des Christentums zu verschmelzen seien - ein Thema, an dem sich etwa auch Hölderlin vergeblich abgearbeitet hatte -, zeigt sich bei Keller im nicht eindeutig ausgehenden Kampf zwischen 'guten' und 'bösen' Mächten. Unter dem harmlosen Titel „Tanzlegendchen“ ist Keller das gewaltige Thema in der letzten seiner Legenden heiter angegangen. Am Ende aber zeigt sich, daß die Kluft zwischen antiker und christlicher Weltanschauung selbst im Himmel nicht zu schließen ist.
 
Das durchaus heiligmäßig lebende „Jungfräulein“ mit dem bezeichnenden altgriechischen Namen „Musa“ war neben ihrem Gebetseifer „nur von einer Leidenschaft bewegt, nämlich von einer unbezwinglichen Tanzlust.“ In einer Erscheinung billigt der alttestamentarische König David, der einst selbst vor der Bundeslade tanzte, diese Neigung, um diese sodann zugleich desto stärker zu beschränken:
 
            „ob sie wohl Lust hätte, die ewige Seligkeit in einem unaufhörlichen
 Freudentanze zu verbringen … so habe sie nichts anderes zu tun, als
 während ihrer irdischen Lebenstage aller Lust und allem Tanz zu entsagen.“
 
Musa will die verheißene ewige Tanzfreude gewinnen, zweifelt aber am Sinn des Verbots, schon auf Erden zu tanzen, bescheidet sich dann jedoch mit der Vermutung, das himmlische Tanzen habe noch ganz andere Qualitäten als das irdische Vergnügen, „ansonst ja der Tod ein überflüssiges Ding wäre.“ Sie legt sich nun harte Bußübungen auf, „aber ihre härteste Bußübung bestand darin, die Beine still und steif zu halten.“ Sie läßt sich die Füße zusammenbindenzuschmieden. Nach drei Jahren gab sie ihren Geist auf:
 
            Aber unversehens wandelte sich das Wehen des Windes in Musik …
            siehe, da waren alle Zweige mit jungem Grün bekleidet, die Myrthen und
           Granaten blühten und dufteten.“
 
Etwas nachdenklich kann die Erwähnung zweier ausgerechnet aus dem antiken Hades stammenden Pflanzen stimmen, aber einstweilen geht es mit der „seligen Musa“ geradewegs in den christlich vorgestellten Himmel, in den sie „sprang und augenblicklich tanzend sich in den tönenden und leuchtenden Reihen verlor.“ Es ist gerade ein Feiertag im Himmel, an dem die neun antiken Musen traditionell einmal im Jahr den Ort ewiger Seligkeit besuchen dürfen, um den Glanz des Festes mit ihren Künsten zu erhöhen. Es ging hoch und etwas freizügig her:
 
            „Alle tranken, daß holde Freude sie erwärmte; König David ging wohlgefällig um den Tisch herum, nicht ohne der lieblichen Erato (Muse der sinnlichen Liebesdichtung!) einen Augenblick das Kinn zu streicheln im Vorbeigehen. An dem Musentisch erschien sogar unsere liebe Frau in all ihrer Schönheit und Güte, setzte sich auf ein Stündchen zu den Musen und küßte die hehre Urania (Muse der Sternkunde) unter ihrem Sternenkranze zärtlich auf den Mund, als sie ihr beim Abschiede erklärte, sie werde nicht ruhen, bis die Musen für immer im Paradiese bleiben könnten. Es ist freilich nicht so gekommen. Zum Dank für erwiesene Güte und Freundlichkeit brachten die Musen in der Form der im Himmel üblichen feierlichen Choräle eine merkwürdige Vokalmusik zuwege. Aber in diesen Räumen klang sie so düster, ja fast trotzig und rauh, und dabei so sehnsuchtsschwer und klagend, daß erst eine erschrockene Stille waltete, dann aber alles Volk von Erdenleid und Heimweh ergriffen wurde und in ein allgemeines Weinen ausbrach. Ein unendliches Seufzen rauschte durch den Himmel, indessen die Musen immer lauter und melancholischer sangen und das ganze Paradies mit allen Erzvätern, Ältesten und Propheten, Alles, was je auf grüner Wiese gegangen oder gelegen, außer Fassung geriet. Endlich aber kam die allerhöchste Trinität selber heran, um zum Rechten zu sehen und die eifrigen Musen mit einem lang hinrollenden Donnerschlag zum Schweigen zu bringen. Da kehrten Ruhe und Gleichmut in den Himmel zurück; aber die armen neun Schwestern mußten ihn verlassen und durften ihn seither nicht wieder betreten.“
 
Die Trennung von selig leichter himmlischer und melancholisch erdenschwerer Musik ist endgültig. Das heimliche Heimweh jedes Heiligen nach seinen unnennbar schönen Erdentagen, als er noch „auf grüner Wiese gegangen oder gelegen“, wird erstickt. Er darf nicht, wie es in einem Roman Jean Pauls heißt,
 
            „im Großvaterstuhl des Alters noch einmal halb im Schlafe die Augen
         aufmachen und die alten Sterne und Wiesen seiner Jugend anschauen.“
 
Und ohne dies traurig-beseligende Erinnern, ohne die hohe vorchristliche antike Kunst der Musen zieht wieder gepflegte Langeweile im Himmel ein. Die Spaltung der Bereiche, die das Menschenkind Maria noch zu heilen suchte, wird durch einen unerbittlichen Gott für immer zementiert. Christentum und Antike finden trotz aller rührenden Versuche nicht zueinander.
 
Gottfried Kellers nur mit Mörike vergleichbare Meisterschaft, in kleinen, scheinbar eher zufällig gewählten Bildern und Symbolen die gewaltigsten Probleme zu beleuchten und zur Diskussion zu stellen, ist hier in seinem „Tanzlegendchen“ in einer meisterhaft knappen Prosa auf einen Höhepunkt geführt – entfernt vergleichbar mit seiner Thematisierung der ewig neuen und ewig geheimnisvollen Probleme der Pubertät im Leben jedes Einzelnen, die er gänzlich unaufdringlich und mit scheinbar leichter Hand in einem Gedicht anspricht (vom seelenverwandten Johannes Brahms meisterhaft vertont):
 
                        Du milchjunger Knabe,

Gottfried Keller - Karl Stauffer-Bern pinx.
                        Wie siehst du mich an?
                        Was haben deine Augen
                        Für eine Frage getan!
 
                        Alle Ratsherrn in der Stadt
                        Und alle Weisen der Welt                  
                        Bleiben stumm auf die Frage,
                        Die deine Augen gestellt!
 
                        Ein leeres Schneckenhäusel,
                        Schau, liegt dort im Gras:
                        Da halte dein Ohr dran,
                        Drin brümmelt dir was!
 
Ein scheinbar beliebiges, gänzlich unbrauchbares Naturphänomen (ein funktionslos gewordenes „leeres“ Schneckenhaus) kann mit dem in Dezennien wunderbar gespeicherten geheimnisvollen Wasserrauschen bessere Auskunft über ein per se unlösbares Geheimnis geben als alle Philosophen der Weltgeschichte. Auch hier sucht Keller die Annäherung an eine Antwort ohne eine jenseitige Instanz zu bemühen, im rein Irdischen. - Man tut gut daran, sich nicht nur anläßlich eines Jubiläums zuweilen der Lebensweisheiten und der auch heute noch vorbildlich schönen Sprache des großen Poeten aus Zürich zu versichern.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019

 Redaktion: Frank Becker