Hypokrisie

von Peter Altenberg

Peter Altenberg
Hypokrisie
 
Ich möchte ein einziges Mal im Leben ein Liebespaar, ein junges Ehepaar antreffen, bei dem der Mann nicht in überquellender, sorgsamer Zärtlichkeit das Zigarettenrauchen der Geliebten bespräche! „Anna, du weißt, dein Pensum ist bereits überschritten, ich habe drei Zigaretten täglich gestattet, eine nach dem Frühstück, eine nach dem Mittagessen, eine nach dem Nachtmahl. Ich glaube, ich bin jedenfalls ein nachsichtiger Gatte ---.“
Nein, das bist du nicht, du Hund! Gerade hierin also willst du ihr helfen, hast nicht die geringste Ahnung, du Esel, wieviel Narkotika sie braucht, um deine Langweiligkeiten zu ertragen oder sich zu betäuben einmal auf anständige Art! Keine Frau raucht mehr Zigaretten, als sie unbedingt braucht, denn in der Kontrolle ihrer Genußfähigkeiten sind die Frauen begabter als die Männer, da sie den Gesetzen der unbewußten Natur näherstehen, sie daher besser erlauschen! Ich hasse die Männer, die ihre hypokrite, zärtliche Fürsorge gleichsam auf das scheinbar übertriebene Zigarettenrauchen ihrer geliebten Frauen konzentrieren. Sie haben überhaupt nicht die geringste Ahnung von der minutiösen Hygiene des Frauenleibes, der Frauenseele! Aber vor der unschuldig-betäubenden, ja oft erlösenden Zigarette wollen sie sie zärtlichst behüten! Der Anfang aller Ungezogenheiten einer Frau, die sich dann allmählich und unscheinbar entwickeln, ist, ihr ihre unschuldigen Freuden zu mißgönnen!
 
Peter Altenberg