Inhaber der Liebe bedürftig…

ach, die Liebe! - Ein literarischer Spaziergang

von Frank Becker

Foto © Jakob Jentgens

Inhaber der Liebe bedürftig…
 
ach, die Liebe! - Ein literarischer Spaziergang
mit
Marina Matthias, Rezitation und Jakob Jentgens, Musik
 
Wie berührend Lyrik und Prosa über die Liebe sein kann, wußten die interessierten Zuhörer dieser Lesung mit Musik gewiß aus eigener Lektüre. Wie kostbar solche Texte aber in der gefühlvollen Interpretation werden können, erfuhr man am vergangenen Sonntag im Remscheider Teo Otto Theater durch den hinreißenden Vortrag von Marina Matthias, die den ausgewählten Gedichten, Romanauszügen und Feuilletons vom Codex latinus Monacencis bis zu Elfriede Jelinek Leben, ja Körper verlieh. An ihrer Seite, mal begleitend, mal mit kleinen Intermezzi Jakob Jentgens an Baßklarinette, Tenorsaxophon und Ney.
 
Bevor Heinrich von Kleist und Henriette Vogel am 21. November 1811 gemeinsam aus dem Leben schieden, hatte Kleist seiner Seelenfreundin im Jahr 1810 anrührende Briefe geschrieben, in denen er amüsant eine schier unendlich scheinende Zahl von Liebesprädikaten aufeinander folgen ließ. Marina Matthias zitierte daraus, unmittelbar nach der Eröffnung mit einem Liebesgedicht Sapphos, die im 6. Jahrhundert v.u.Z. auf Lesbos lebte und Frauen wie Männer begehrte:
Kamst Du endlich! Hab Dank! Denn ich harrte in Sehnsucht dein ... Überströmen nun läßt du mein Herz, das in Liebe brennt.
 
Das älteste bekannte mittelhochdeutsche Liebesgedicht ist wohl
 
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.
 
von einem unbekannter Dichter am Ende des 12. Jahrhunderts verfaßt. Das durfte natürlich in einem solchen Programm nicht fehlen – und es erfreute im Verlauf gleich zweimal mit seiner unwidersprüchlichen Klarheit.
 
Prosa von Bernhard Schlink über das Werben, Versagen und die Entäuschung, von Tschingis Aitmatow zu Klängen der Ney über die schöne Dshamilja, von Heiner Müller, Stefan Maiwald (Inhaber der Liebe bedürftig…), Connie Palmen und Wolf Biermann wechselte sich nach den Programmpunkten der ersten, zweiten, dritten, der alten, jungen und letzten Liebe mit herrlicher Lyrik zum schönsten Thema der Welt. Goethes „Werther“ bewegt mit: Nein, ich betrüge mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Theilnehmung (…) – o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? – daß sie mich liebt! Ich werde sie sehen! ruf ich Morgens aus, wenn ich mich ermuntere, und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegen blicke…
… dann lacht man mit Heinrich Heine über die „alte Geschichte“ Ein Jüngling liebt ein Mädchen, seufzt mit Rilkes „Liebeslied“ und einem Bogenstrich Wie soll ich meine Seele halten, daß sie nicht an deine rührt? – und trauert mit Mascha Kaléko Wenn du mich einmal nicht mehr liebst… und Erich Kästners bewegendem „Sachliche Romanze“: …und konnten es einfach nicht fassen...
Joachim Ringelnatz´ heitere Ballade über die Liebe zwischen einem Nagel und einer Schraube Ja, alte Liebe, die rostet nicht steht gleichberechtigt neben dem biblischen Hohelied der Liebe  Und hätte der Liebe nicht aus dem 1. Korintherbrief 13, 1-13 und Wolfgang von Goethes Meine Ruh ist hin und Christian Morgensterns Ich liebe dich, du Seele, die da irrt. Dieser kleine Auszug soll für die unterhaltsamen, mitnehmenden 80 Minuten stehen, die Marina Matthias und Jakob Jentgens ihrem sichtlich berührten Publikum schenkten, das sich  mit reichem Applaus revanchierte.
 
„Erklär mir die Liebe!“ fordert Ingeborg Bachmann in ihrem gleichnamigen Gedicht. Marina Matthias schaffte das in allen Facetten dieses abwechslungsreichen Programms über die vielschichtige Leidenschaft mit Bravour und mit Verve, Eleganz und reichem Repertoire an Ausdruck und Sprache. Ein literarischer Nachmittag von Rang, der hoffentlich (wenigstens) noch einmal aufgeführt wird. Daß er mit „On the sunny side of the street“ ausklang, nahm ihm die kleine Bitternis, die natürlich ebenso mitschwingen darf, wenn von der Liebe die Rede ist. Chapeau!